Interviewserie 60 Jahre Grundgesetz "Viele Staaten orientieren sich am Grundgesetz"
Dass die Deutschen 1990 nicht über das gemeinsame Grundgesetz abstimmen durften, bedauert Ex-Bundestagspräsidentin Süssmuth. Im Interview mit tagesschau.de warnt sie aber vor Verfassungsänderungen. Das gültige Grundgesetz genieße weltweit hohes Ansehen.
Dass die Deutschen 1990 nicht über das gemeinsame Grundgesetz abstimmen durften, bedauert Ex-Bundestagspräsidentin Süssmuth. Im Interview mit tagesschau.de warnt sie aber vor Verfassungsänderungen. Das gültige Grundgesetz genieße weltweit hohes Ansehen.
tagesschau.de: Ist die Geschichte des Grundgesetzes eine Erfolgsgeschichte?
Rita Süssmuth: Diese Erfolgsgeschichte ist unbestritten. Sie war es 40 Jahre lang im geteilten und ist es ebenso im wiedervereinten Deutschland. Das Grundgesetz bildet mit seinen Werten und Normen das Fundament unseres Zusammenlebens. Es hat uns ermöglicht, nach dem Zweiten Weltkrieg und einer brutalen Diktatur mit totaler Aufhebung des Rechtsstaats und der Menschenrechte wieder einen Platz in Europa und der Völkergemeinschaft zu finden.
Der Parlamentarische Rat hat ein Grundgesetz erarbeitet, das die Individualrechte und unser demokratisches Staats- und Gesellschaftsverständnis fest verankert. Wir sind sowohl ein freiheitlicher Rechtsstaat als auch ein Sozialstaat. Die Freiheit ist keine ungebundene, sie ist dem Menschen verpflichtet, denn seine Würde ist unantastbar. Daraus resultiert die Absage an Gewalt und Krieg, an die Todesstrafe aber auch an jede Form der Willkür. Das Grundgesetz hat weltweit eine hohe Reputation. Nicht nur Staaten Europas, sondern auch Staaten Afrikas und Asiens orientieren sich bei ihren Verfassungsreformen oder bei neuen Verfassungen an unserem Grundgesetz.
Rita Süssmuth (*1937) war von 1988 bis 1998 als erste CDU-Politikerin Präsidentin des Bundestags. Zuvor hatte sie Bundeskanzler Helmut Kohl in sein Kabinett geholt, wo sie zwischen 1985 und 1988 Bundesministerin für Gesundheit und Familie war. Von 1987 bis 1998 gehörte sie dem CDU-Präsidium an. In den Jahren 2000 und 2001 leitete Süssmuth die Zuwanderungskommsion.
tagesschau.de: Welche neuralgischen Punkte sehen Sie in der Geschichte des Grundgesetzes?
Süssmuth: Jede Verfassung bewährt sich in dem Maße, wie sie im Alltag gelebt wird. Die Frage des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizäckers: "Wir haben eine gute Verfassung, aber sind wir auch in guter Verfassung?" stellt sich stets neu. Gerade in Krisenzeiten war und ist unser Grundgesetz Bewährungsproben ausgesetzt. Das galt bei der Wiedereinführung der Bundeswehr, bei der Notstandsgesetzgebung, bei der Veränderung des Asylrechts und bei den jüngsten Kontroversen um den Datenschutz. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang das Bundesverfassungsgericht als höchste Kontroll- und Schutzinstanz unserer Rechtsordnung.
"Volksabstimmung hätte dem Geist des Grundgesetzes entsprochen"
tagesschau.de: Bis zur Wiedervereinigung war das Grundgesetz ja vorläufig. Hätte man nicht nach 1989 das gemeinsame Grundgesetz dem Volk zur Abstimmung vorlegen müssen?
Süssmuth: Nach der Rechtsprüfung war es nicht notwendig, das Grundgesetz mit der Wiedervereinigung noch einmal allen Bürgerinnen und Bürgern zur Abstimmung vorzulegen. Meine persönliche Auffassung ist es jedoch, dass eine solche Volksabstimmung höchst wünschenswert gewesen wäre. Sie hätte dem Geist des Grundgesetzes entsprochen und die aktive Zustimmung aller Beteiligten zu unserem gemeinsamen Grundgesetz ermöglicht.
In dieser Serie lässt tagesschau.de Menschen zu Wort kommen, deren Geschichte mit der des Grundgesetzes eng verbunden ist. Sie schildern hier ihre ganz persönliche Sicht auf 60 Jahre Verfassungsgeschichte.
tagesschau.de: Ist unser Grundgesetz durch das Zusammenwachsen Europas, den Lissabon-Vertrag, in Gefahr?
Süssmuth: Ich persönlich bin überzeugt, dass der Lissabon-Vertrag nicht gegen das Grundgesetz verstößt. Aber diese Frage wird gegenwärtig vom Bundesverfassungsgericht überprüft und das Urteil dazu haben wir abzuwarten.
tagesschau.de: Wenn es nur nach Ihnen ginge: Welchen Paragraphen würden Sie dem Grundgesetz hinzufügen, welchen würden Sie ändern?
Süssmuth: Grundsätzlich gilt, das Grundgesetz in seiner Substanz nicht anzutasten. Die Einhaltung dieses Prinzips erfordert Wachsamkeit und Umsicht der Gesetzgebungsorgane. Zu häufig hören wir in unserem Staat die Forderung nach Änderungen des Grundgesetzes. Davor aber möchte ich eindringlich warnen. Daher möchte ich in Verbindung mit 60 Jahren Grundgesetz weder Veränderungen noch neue Grundrechte vorschlagen.
Die Fragen stellte Jana Seyther per E-Mail.