Geflüchtete Ukrainer Wie Fernunterricht den Kindern Halt gibt
Sobald die Sirenen verstummen, geht der Unterricht los: Ukrainische Lehrer versuchen, online den Schulunterricht aufrechtzuerhalten - und bieten geflüchteten Kindern ein Stück Normalität.
Yulia und Maria sitzen im Esszimmer ihrer Gastfamilie im Kreis Böblingen - andere Kinder ihrer achten Klasse sind in Polen, Rumänien, Litauen, manche noch in der Ukraine. Die beiden 14-jährigen Mädchen beginnen den Unterricht jeden Morgen über ihre Handys. Mit einem loggen sie sich in die ukrainische Lernplattform ein, das andere benutzen sie für Zoom.
Maria vermisst ihre Freunde sehr und ist froh darüber, sie wenigstens online zu sehen - "insbesondere zu sehen, dass es ihnen gutgeht, denn ich mache mir Sorgen, viele sind in meiner Heimatstadt Winnyzja geblieben und die Sirenen gehen sehr oft an."
Unterricht nach Lehrplan
In Winnyzja, südwestlich von Kiew, sind auch viele Lehrkräfte geblieben. Heute ist ein guter Tag, alles läuft nach Lehrplan. Gerade haben sie Geografie. Die Stunde beginnt, fast so als gäbe es keinen Krieg, mit der Frage "Wohin möchtet ihr in Urlaub fahren?" So ungestört ist es selten. "Immer wieder geht der Alarm los", erzählt Yulia, "dann wird die Unterrichtsstunde unterbrochen und wenn es wieder aufhört, dann fängt der Unterricht wieder an."
Ihre Klassenlehrerin Lydija Aleksandrowna Lyvkowitsch unterrichtet entweder allein aus der Schule oder aus ihrer Wohnung im vierten Stock eines Hochhauses in Winnyzja. Wenn der Alarm losgeht, versteckt sie sich im Keller oder im Flur. Sobald sie wieder raus kann, versucht sie durch den Unterricht ein Stück Normalität für die Kinder zu schaffen: "Als Erwachsene wollen wir nicht, dass so etwas passiert und schon gar nicht wollen wir, dass unsere Kinder so ein Leid sehen, wie Kinder sterben oder andere Menschen umgebracht werden. Ich habe eine tolle Klasse, die Schüler sind sehr kommunikativ. Sie suchen den Kontakt, obwohl sie alle sehr besorgt waren."
Die Ukraine hat fertige Schulcurricula. In der Pandemiezeit wurde eine breite Online-Plattform für die Klassen 5 bis 11 entwickelt, die unter e-school.net.ua zu finden ist. Weil der Online-Unterricht trotz des Krieges so gut funktioniert, wünschen sich ukrainische Behörden, dass die Kinder weiter online beschult werden.
Vertrautes erhalten
Die ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka hat deshalb eine Rede vor der Kultusministerkonferenz in Deutschland gehalten. Es sei wichtig, die Kontinuität des Bildungsprozesses aufrechtzuerhalten. Willkommensklassen lehnte sie ab. Es gehe um einen vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland.
Daher müsse man jetzt dafür sorgen, dass die Geflüchteten ihr Schuljahr abschließen und - in den höheren Klassen - ihre Abschlüsse machen könnten. Außerdem sei es wichtig, die nationale Identität aufrechtzuerhalten. "Zu Ukrainern macht uns die ukrainische Sprache, unsere Literatur, unsere Kultur, unsere Geschichte unsere Traditionen. Wenn die ukrainischen Kinder keinen Zugang dazu bekommen, wird dies Putin in die Hände spielen, der davon träumt, die Ukraine als Staat und Nation auszulöschen."
Sich gegenseitig unterstützen
Die Nähe zu anderen Ukrainern ist auch für Maria sehr wichtig: "Als ich alleine war - Yulia ist ja später gekommen - hatte ich Sorgen, wie es für mich hier sein wird, so allein. Dass sie hier ist, beruhigt mich." Dass die beiden Klassenkameradinnen zusammen sind, ist purer Zufall. Die Familie, bei der sie wohnen, hat auch ihre Mütter und Geschwister aufgenommen.
Vertraute Gesichter helfen. Doch online ist eben online. Dadurch sehe sie nicht, wie sich die Kinder wirklich fühlen, meint die Klassenlehrerin Lydija Aleksandrowna Lyvkowitsch - dabei sei das gerade so wichtig: "Ich denke am schwierigsten ist es für die Kinder. Die Erwachsenen verstehen besser, was vor sich geht. Je nach Möglichkeit empfehlen wir den Kindern, trotzdem andere Kinder zu treffen. Außerdem sollen die Kinder öfter ihre Eltern umarmen, damit sie die Nähe spüren, sich gegenseitig Halt geben."
Halt würden ihrer Tochter gerade die alltäglichen Dinge geben, erzählt Maryna Gorai, die Mutter von Yulia. Dazu gehöre auch der Online-Unterricht, der den Kindern zeige, dass die Lehrkräfte nicht aufgeben, obwohl die Russen einen Krieg angefangen haben. "Sie kämpfen an ihrer eigenen Front. Viele mussten ihre Häuser verlassen. Es gab eine Pause, als der Krieg begann, aber nach sieben bis zehn Tagen hat man sich für die Kinder organisiert und alles in Bewegung gesetzt, damit sie das Schuljahr regulär beenden können."
Integration ins deutsche Schulsystem
Gleichzeitig wollen die Mütter und ihre Töchter aber auch in Deutschland besser ankommen. Marias Mutter Hanna Kyrychenko findet: "Es ist gut, dass es den Online-Unterricht gibt, aber sie brauchen den persönlichen Kontakt. Sie sind wie isoliert." 20.205 geflüchtete Kinder aus der Ukraine sind hier schon an den allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen aufgenommen worden.
Die ukrainische Gemeinde in Stuttgart hat eine Online-Umfrage gestartet. Ergebnis: Vor allem die älteren Schüler möchten online ihren ukrainischen Abschluss machen, Grundschüler wünschen sich, andere Kinder an deutschen Schulen kennenzulernen. Viele würden gerne beides kombinieren.
Die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz (KMK), Karin Prien, sagt dazu: "Wir werden alles tun, um die Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, ihre Bildungsbiografien fortsetzen zu können." Auch ukrainische Lehrkräfte sollen eingestellt werden. Die KMK hat eine Task Force Ukraine zur zentralen Koordinierung eingesetzt, um geflüchteten Kindern schnell zu helfen.
Die Pressestelle schreibt: "Sie sollen mit anderen Kindern interagieren, sich willkommen fühlen, aber auch die Möglichkeit haben, ihre ukrainische Identität zu bewahren. Diese beiden Aspekte diskutieren wir derzeit. Grundsätzlich hat das Erlernen der deutschen Sprache und die Integration in das deutsche Schulsystem Priorität." Die Integration von Yulia und Maria wird gerade vorbereitet, von den Schulen im Kreis Göppingen. Vielleicht können die beiden Mädchen schon diese Woche hier auch ins echte Klassenzimmer.