interview

Streit um EU-Türkei-Abkommen "Die EU sollte sich nicht auf Erdogan fixieren"

Stand: 11.05.2016 17:18 Uhr

Die Europäische Union setzt das Flüchtlingsabkommen mit Ankara für "Symbolpolitik" aufs Spiel, warnt der Türkei-Experte Gerald Knaus. Im Gespräch mit tagesschau.de erklärt er, warum er das Abkommen jetzt schon für einen großen Erfolg hält.

tagesschau.de: Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, sieht keine Chance mehr, die Visumsfreiheit für türkische Bürger bis zum Sommer zu verabschieden. Ist das Flüchtlingsabkommen zwischen EU und Türkei gescheitert?

Gerald Knaus:  Die Gefahr besteht zumindest. Wenn es eine Position der türkischen Außenpolitik gibt, die sich in den vergangenen Jahren nicht verändert hat, dann ist es die Verknüpfung von der Rücknahme von Flüchtlingen mit Visafreiheit  für türkische Bürger. Daran hat sich 2011 nichts geändert. Das heißt: Wenn es keine Visafreiheit gibt, wird die türkische Regierung keine Flüchtlinge mehr zurücknehmen. Damit wäre der Kern des EU-Türkei-Abkommens hinfällig. Die Konsequenzen hätten Länder wie Griechenland, Deutschland, Österreich und Schweden zu tragen, die ja in der Vergangenheit die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben.

Gerald Knaus
Zur Person

Gerald Knaus leitet die gemeinnützige Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" (ESI) und gilt als einer der Architekten des EU-Türkei-Abkommens. Der Österreicher ist in der Flüchtlingspolitik und im Umgang mit der Türkei ein gefragter Experte. Er studierte in Oxford, Brüssel und Bologna und war unter anderem als Analyst für die UN im Kosovo aktiv.

tagesschau.de: Ein Berater des türkischen Präsidenten droht bereits, "die Flüchtlinge loszuschicken", sollte die geplante Visafreiheit scheitern. Sitzt die Türkei damit am längeren Hebel?

Knaus: Faktisch würde es schon genügen, wenn die türkische Regierung ankündigen würde, keine Flüchtlinge von den griechischen Inseln mehr zurückzunehmen. Wenn die Menschen wissen, dass sie nicht zurückgeschickt werden, dann ist die Kontrolle über die Ägäis nicht mehr aufrecht zu erhalten. Die teils kindische und martialische Sprache, die wir aus Ankara hören, ist deshalb völlig unnötig. Denn: Europa braucht die Türkei. Aber die Türkei braucht auch Europa. Die Vorstellung, dass Ankara alle Karten in der Hand hält und die Bedingungen diktiert, ist falsch. Die Wirtschaft hat große Probleme, das Land ist außenpolitisch angewiesen auf Verbündete.

Deshalb ist es für beide Seiten wichtig, zu diesem Abkommen zu stehen. Der Türkei wird ja auch viel abverlangt. Sie soll zwei Millionen syrische Flüchtlinge dauerhaft integrieren, sie muss helfen, die europäischen Außengrenzen zu sichern und sie muss Flüchtlinge aufnehmen, die Europa zurückschickt.

Reine Symbolpolitik

tagesschau.de: Die EU fordert von der Türkei eine Änderung der Anti-Terror-Gesetze. Präsident Erdogan lehnt dies ab. Ist in diesem Punkt eine Einigung überhaupt möglich?

Knaus: Wenn es zu einer Einigung kommt, dann höchstens in Form eines diplomatischen Kompromisses, der an der Menschenrechtslage in der Türkei nichts ändern würde. Davon haben weder die EU noch diejenigen in der Türkei etwas, die unter dem Anti-Terror-Gesetz leiden. Eine Verbesserung der Menschenrechtslage in der Türkei sehe ich derzeit kurzfristig nicht - und sie wird noch unwahrscheinlicher, wenn EU und Türkei sich noch weiter voneinander entfernen.

Deshalb muss die EU sich die Frage stellen: Will sie das Abkommen für Symbolpolitik aufs Spiel setzen? Die Europäer sollen sich nicht verbiegen. Sie müssen ganz klar sagen, dass die Türkei sich in der Menschenrechtsfrage in die falsche Richtung entwickelt. Aber was würde es für die Menschenrechtslage in der Türkei mehr bringen, wenn man der jungen türkischen Generation die Möglichkeit geben würde, so zu reisen, wie es auch Bosnier, Albaner und Montenegriner tun? Die türkischen Staatsangestellten und ihre Familienmitglieder haben jetzt schon die Möglichkeit mit Sonderpässen visafrei zu reisen. Die normalen Bürger nicht. 

Interessen, Kontrolle, aber kein Vertrauen

tagesschau.de: Präsident Erdogan wird in Deutschland zunehmend als Autokrat wahrgenommen. Ist er für Europa ein verlässlicher Partner?

Knaus: Das Abkommen zwischen EU und Türkei kann derzeit nur auf Interessen und Kontrolle beruhen, nicht auf Vertrauen. Das war allerdings auch schon vor einem Jahr so. Sich jetzt auf die Persönlichkeit von Präsident Erdogan zu fixieren, ist ein Fehler. Die EU muss darauf drängen, dass die Türkei ihren Teil der Vereinbarung einhält - bisher tut sie das. 

Der türkische Präsident Erdogan

Präsident Erdogan - ist er für die EU ein verlässlicher Partner?

tagesschau.de: Welche Auswirkungen wird der Rücktritt des als gemäßigt geltenden türkischen Regierungschef Davutoglu auf die Zusammenarbeit mit Ankara haben?

Knaus: Solange die Türkei kein präsidiales Regierungssystem hat, wird der Ministerpräsident ein wichtiger Ansprechpartner für die EU sein - egal wer es ist. Jeder türkische Premierminister wird versuchen müssen, mit der EU und den wichtigsten Mitgliedsstaaten Ergebnisse zu erzielen. Die zahlreichen Provokationen von Präsident Erdogan in den vergangenen Monaten haben das schwierig gemacht, aber die EU und allen voran Deutschland haben ein großes Interesse daran, mit der türkischen Gesellschaft in Kontakt zu bleiben.

Abkommen ist ein Erfolg

tagesschau.de: Sie waren an der Ausarbeitung des Türkei-Plans der Bundesregierung beteiligt. Hat das EU-Türkei-Abkommen bislang gehalten, was die Bundesregierung sich von ihm versprochen hat?

Knaus: Der Plan ist bis jetzt eindeutig ein Erfolg. Den Schmugglern in der Ägäis wurde das Geschäftsmodell entzogen. Seit dem Stichtag am 20. März ist die Zahl der Flüchtlinge, die auf den griechischen Inseln ankommen, stark gesunken. Im Januar, bevor das Abkommen in Kraft war, ertranken dort laut der Internationalen Organisation für Migration 272 Menschen in einem Monat. Im April waren es zehn. Darauf kann man aufbauen. 

tagesschau.de: Sehen Sie diese Erfolge durch den aktuellen Streit aufs Spiel gesetzt?

Knaus: Was die Übereinkunft derzeit in Gefahr bringt, ist nicht das Vorgehen der Türkei, sondern die Unfähigkeit der griechischen Behörden und ihrer europäischen Unterstützer, die Asylverfahren auf den Inseln in der Ägäis schnell abzuwickeln. Bisher wurde noch keine einzige Person in die Türkei zurückgebracht, die ein Asylverfahren auf den Inseln durchlaufen ist. Nur Flüchtlinge, die keinen Asylantrag gestellt haben, wurden abgeschoben. Das war allerdings auch schon vor dem Abkommen möglich. Das heißt: Faktisch wird das Abkommen von EU-Seite derzeit noch gar nicht genutzt. Es wirkt nur psychologisch, weil die Flüchtlinge jetzt wissen, dass sie von den griechischen Inseln aus nicht ohne weiteres weiterkommen. Wenn diese Gewissheit verloren geht, könnte die Zahl der Flüchtlinge, die sich auf den Weg über die Ägäis machen, sehr schnell wieder stark ansteigen.

tagesschau.de: Welche Auswirkungen hätte ein Scheitern des Flüchtlingsabkommens für Bundeskanzlerin Angela Merkel?

Knaus: Ein Scheitern würde quer durch Europa rechte und populistische Parteien stärken. Diese Gruppen haben ja in Ungarn, Polen, Frankreich und besonders Österreich bereits enorme Erfolge eingefahren und würden wohl einen weiteren Aufschwung erleben. Deutschland ist hier zwar noch in einer Sondersituation, da noch keine starke, anti-europäische Partei im Bundestag sitzt - aber das kann sich natürlich ändern.

Das Interview führte Julian Heißler, tagesschau.de