Interview

60 Jahre Bundesverfassungsgericht "Die nächsten zehn Jahre dürften spannend werden"

Stand: 28.09.2011 17:14 Uhr

Wiedervereinigung, Meinungsfreiheit, Datenschutz - in den 60 Jahren seit seiner Gründung hat das Bundesverfassungsgericht das Leben in Deutschland maßgeblich beeinflusst. In Zukunft könnte es allerdings an Bedeutung verlieren, so der langjährige ARD-Rechtsexperte Möller im Interview mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Seit 60 Jahren formt das Bundesverfassungsgericht die Bundesrepublik Deutschland mit, mehr als die Hälfte davon haben Sie als Experte sehr nah miterlebt. Was sticht aus der Geschichte des Gerichts für Sie besonders heraus?

Karl-Dieter Möller: Was mich über viele Jahre bewegt hat, ist, dass ich die Wiedervereinigung hier in Karlsruhe praktisch zwei Mal erlebt habe. Einmal politisch aus Berlin, aus Presse und Fernsehen, und dann hier Schritt für Schritt durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs. Was da seit 1990 aufgebaut wurde, ist wirklich enorm: vom Einigungsvertrag über den Umgang mit im öffentlichen Dienst der DDR Beschäftigten bis zu den Altschulden.

Oder beispielsweise auch die Entscheidung, die Fünf-Prozent-Klausel bei den ersten Wahlen nach der Wiedervereinigung für die neuen Bundesländer auszusetzen - wenn das Bundesverfassungsgericht damals anders entschieden hätte, wäre die damalige PDS, heute die Partei Die Linke möglicherweise gar nicht im Bundestag. Auch die Honecker-Entlassung beschäftigte das Gericht, genauso wie die Strafbarkeit der Mauerschützen. Und im vergangenen Jahr entschieden die Richter noch, dass Minister der ehemaligen DDR keine Sonderrente bekommen. Also über einen langen Zeitraum hat die Wiedervereinigung hier in Karlsruhe noch nachgehallt.

Zur Person
Karl-Dieter Möller begann 1979 - bereits Volljurist - als Justizredakteur. Von 1986 bis 2010 war er Leiter der ARD-Redaktion "Recht und Justiz" und Korrespondent bei Bundesverfassungsgericht, Bundesgerichtshof und Bundesanwaltschaft. Für seine Berichterstattung wurde er unter anderem mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet.

tagesschau.de: Gibt es auch Einzelurteile, die sich besonders eingeprägt haben?

Möller: Sicherlich wichtig war das Urteil zur Spiegel-Affäre. Damit hat das Bundesverfassungsgericht 1966 die Pressefreiheit zu einem Fundament dieser Demokratie gemacht, auf dem dann auch andere Urteile zur Meinungsfreiheit fußen, wie beispielsweise die Urteile zu dem Ausspruch "Soldaten sind Mörder" oder zu den Kruzifixen in deutschen Schulen. Da hat mich die Aufregung auch in der Politik immer wieder überrascht, denn das Gericht hat die Meinungsfreiheit ja schon immer hoch gehalten. Besonders präsent ist für mich auch noch die AWACS-Entscheidung von 1994, die letztlich ermöglicht hat, dass deutsche Soldaten wieder an Auslandseinsätzen der NATO teilnehmen können.

tagesschau.de: Mischt sich das Bundesverfassungsgericht nicht zu sehr in die Politik ein?

Möller: Nein. Gerade in letzter Zeit erlebt man, dass das Bundesverfassungsgericht die Abgeordneten 'zum Jagen tragen muss', dass es den Abgeordneten durch Entscheidungen sagte: 'Ihr müsst eure Rechte mal stärker wahrnehmen.' Die Richter geben Vorgaben, weil ihnen die Politiker die Sache auf den Tisch gelegt haben - und damit oft die Verantwortung von sich wegschieben. Aber wir erleben immer wieder, dass das Gericht den Ball zurückspielt. Oft, wie bei der Rentenreform, wird das dann von der Politik ein bisschen liegengelassen. Dann kommt meist ein zweiter, ähnlich gelagerter Fall, und nach meiner Erfahrung zieht das Gericht dann etwas die Daumenschrauben an. Beispielsweise entscheidet es, dass der Bürger keine Steuern mehr bezahlen muss, wenn etwas nicht fristgerecht geregelt ist. Das Gericht hat aber keinen Gerichtsvollzieher. Es muss daher darauf vertrauen, dass auch durch die Medien der Druck so stark ist, dass sich die Politiker daransetzen, nach den Vorgaben des Gerichts etwas zu ändern.

tagesschau.de: Ist es denn gut, wenn ein Verfassungsrichter, der unabhängig urteilen soll, direkt aus der Politik kommt?

Möller: Ich finde, es schadet jedenfalls nicht. Aus meiner rückblickenden Sicht fehlen dem Verfassungsgericht Leute, die von der politischen Bühne Erfahrungen mitbringen. So war der Verfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch eine große Hilfe im NPD-Verfahren. Der wusste als Bundestagsabgeordneter und als Landesjustizminister, wie die Politik tickt oder mit welchen Tricks sie arbeitet. Solche Leute können aus ihren Erfahrungen heraus sehr viel beisteuern.

tagesschau.de: Besteht nicht die Gefahr, dass das Gericht zu sehr parteipolitisch beeinflusst wird?

Möller: Die Ideologie verliert man ganz schnell. Wenn jemand in einen Senat eingebunden ist, dann kommt es nachher nur noch auf die Verfassungsfragen an. Und wenn jemand glaubt, seine parteipolitischen Grundsätze durchsetzen zu müssen, isoliert er sich. Dann ist er als Verfassungsrichter ganz schnell aufs Abstellgleis gestellt. Da lassen sich eine ganze Reihe von Richtern nennen, bei denen die jeweilige Partei bestimmt enttäuscht war. Aus dem CDU-Politiker und späteren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Roman Herzog wurde ein sehr liberaler Verfassungsrichter. Der Zwang zur wirklich konzentrierten Beratung und der Blick auf die verfassungsrechtliche Frage schließt parteipolitische Ambitionen aus. Das haben mir alle Verfassungsrichter bestätigt.

tagesschau.de: Wie nah ist denn das Bundesverfassungsgericht am Bürger, welche Bedeutung hat es für den Einzelnen?

Möller: Das Verfassungsgericht ist sehr wichtig für den 'Glauben an den Rechtsstaat'. Für den Bürger ist es der letzte Strohhalm, um sein Recht zu bekommen, und der hat in vielen Fällen gehalten und den Bürgern die demokratischen Grundlagen gebracht, die wir heute haben. Wir müssen uns nicht gefallen lassen, ständig elektronisch überwacht zu werden. Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut: Wir können sagen, was wir wollen. Es gibt Parteien, von denen wir glauben, dass sie wegen ihres Auftretens und ihrer Inhalte verboten werden müssten. Hier sagt das Verfassungsgericht aber, wir brauchen eine Toleranzbreite. Auch Unsinn unterliegt der Meinungsfreiheit und muss geduldet werden.

Das Gericht hat auch mehrfach betont, dass die jetzige Regierung nicht einfach von sich aus weitere Rechte an Europa abgeben kann, ohne das Grundgesetz zu ändern. Das bedeutet, dass sie uns, den Bürger, vorher in einer Volksabstimmung fragen müssen. Es ist also wichtig für eine Korrektur dessen, was Politiker wollen und was Bürger womöglich nicht wollen. Die Akzeptanz der Urteile des Verfassungsgerichts ist dabei äußerst hoch, egal ob es um die Pendlerpauschale, den Nichtraucherschutz, oder den Euro-Rettungsschirm geht.

tagesschau.de: Kann man an den Urteilen des Gerichts auch Veränderungen dessen ablesen, was die Gesellschaft will?

Möller: Gerade stellt sich die Frage, ob sich das Bundesverfassungsgericht etwas weg bewegt von der bisherigen Einordnung von Ehe und Familie. Bisher hat es das Bestimmungsrecht der Eltern immer hoch gehalten, während es jetzt vor kurzem geurteilt hat, dass der Gesetzgeber bestimmen kann, wie die 14 Monate Elterngeld aufzuteilen sind. Da könnte sich eine Korrektur der bisherigen Rechtsprechung andeuten. Das mag auch damit zusammenhängen, dass jetzt zwei fortschrittliche Frauen in dem Senat vertreten sind, die anders zu verorten sind als die bisherigen Richter. Das muss man beobachten.

tagesschau.de: Könnte das Bundesverfassungsgericht in einem immer stärker zusammenwachsenden Europa an Bedeutung verlieren?

Möller: Seine Bedeutung könnte sich tatsächlich durch die europäischen Gerichte ändern. Wir haben jetzt den Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Gerade letzterer hat bereits drei oder vier mal das Bundesverfassungsgericht korrigiert - das gibt mir zu denken. Das Bundesverfassungsgericht sagt ja immer: 'Wir entscheiden als letzte Instanz in Deutschland über die Grundrechte.' Aber wird das möglicherweise durch die europäische Rechtsprechung überlagert? Da dürften die nächsten zehn Jahre wieder spannend werden. Wenn man die Entwicklung sieht, gerade in Zusammenhang mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dann könnte das Bundesverfassungsgericht durchaus ein Stück an Bedeutung verlieren - auch wenn das Gericht das sicherlich abstreiten wird.

Das Interview führte Johanna Bartels, tagesschau.de