Zukunft der Europäischen Union Schäubles Idee mit Sprengpotenzial
Wichtige Entscheidungen künftig lieber ohne die europäische Institutionen? Der Vorschlag von Finanzminister Wolfgang Schäuble schreckt nicht nur Opposition und Koalitionspartner auf. Experten fürchten eine Schwächung der EU.
Dass Wolfgang Schäuble ein überzeugter Europäer ist, bezweifelt kaum jemand auf dem Kontinent. Für seine Verdienste um die europäische Einigung wurde er mehrfach ausgezeichnet - zuletzt mit dem Aachener Karlspreis und dem Point-Alpha-Preis. Doch mit seinen Überlegungen über die Zukunft der EU irritierte der Bundesfinanzminister am Wochenende einige Beobachter.
Wichtige Entscheidungen könnten künftig vor allem die Mitgliedsstaaten und nicht mehr die EU-Institutionen vorantreiben, sagte Schäuble im Bericht aus Berlin. Um schneller "sichtbare Ergebnisse" zu liefern, müssten notfalls Länder mit Führungsverantwortung in bestimmten Fragen vorangehen, so der Finanzminister weiter - und rief damit einige Empörung hervor.
Schäuble liegt Europa am Herzen
"Wolfgang Schäuble will ein Europa, in dem vor allem die Staats- und Regierungschefs entscheiden. Ich sehe das sehr skeptisch. Es hat bisher ja auch nicht überzeugt. Wir brauchen gestärkten Parlamentarismus und mehr Nachvollziehbarkeit in Brüssel und den Hauptstädten der Mitgliedstaaten", so Rebecca Harms, Vorsitzende der Grünen-Fraktion im EU-Parlament zu tagesschau.de. Der Koalitionspartner SPD warf ihm vor, die europäischen Institutionen schwächen zu wollen. Wurde Schäuble etwa plötzlich zum EU-Gegner?
Rolf-Dieter Krause glaubt das nicht. Der langjährige Leiter des ARD-Studios in Brüssel hält Schäuble für einen der wenigen deutschen Minister, denen Europa wirklich am Herzen liege. "Der Vorschlag trägt dem Umstand Rechnung, dass man sich unter 28 Mitgliedsstaaten nicht mehr einigen kann", so Krause im Gespräch mit tagesschau.de.
20 Jahre alter Vorschlag?
Durch die Erweiterung der EU auf derzeit 28 Mitglieder sei die potenzielle Uneinigkeit zwischen den Ländern immer weiter gewachsen, erklärt Krause. Deshalb wolle Schäuble notfalls in wichtigen Bereichen nun mit einigen Ländern voran gehen. Für Krause kommt dieser Vorstoß nicht überraschend. "Die Frage, ob man mit 28 Mitgliedsstaaten die erforderlichen Integrationsschritte gehen kann, hat Schäuble schon vor mehr als 20 Jahren mit Nein beantwortet - auch wenn es damals noch gar keine 28 Mitglieder gab", sagt er.
Krause verweist damit auf das Schäuble-Lamers-Papier von 1994, in dem der CDU-Politiker schon damals das Konzept für ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten vorlegte. Ein Kerneuropa aus Deutschland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg sollte bei der Integration Tempo machen - wobei die Fortschritte auch immer den anderen Mitgliedsstaaten offenstehen sollten. Ist der Vorschlag vom Wochenende also nur eine Wiederholung eines mehr als zwei Jahrzehnte alten Plans?
"Es schwächt die EU-Institutionen"
Nikolai von Ondarza sieht das nicht so. "Das Schäuble-Lamers-Papier ging davon aus, dass die EU-Institutionen an den Fortschritten der Kerngruppe beteiligt wären", erklärt der stellvertretende Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik im Gespräch mit tagesschau.de. Schäubles Vorschlag vom Wochenende gehe darüber hinaus. "Er besagt: Wenn die EU-Institutionen sich nicht einigen können und die Mitgliedsstaaten sich nicht einigen können, dann handeln wir künftig außerhalb der Institutionen", erklärt Ondarza. "Das hat ein gehöriges Sprengpotenzial. Es schwächt die EU-Institutionen".
Prinzipiell sei es nicht ungewöhnlich, dass die Staats- und Regierungschefs auch außerhalb des EU-Rahmens zusammenarbeiten. Im Zuge der Griechenlandkrise sei etwa der Fiskalpakt, der die Regeln zur Durchsetzung der Haushaltskontrolle verschärft hat, außerhalb des EU-Rahmens geschlossen worden. Auch in der Sicherheitspolitik sei die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Nationalstaaten wichtiger als die Kooperation auf EU-Ebene.
Kontrolle über Brüssel
Dieses Modell habe jedoch auch Grenzen: "Wenn der gesamte EU-Rahmen gebraucht wird, muss man auf die europäischen Institutionen zurückgreifen", sagt Ondarza. Ein Beispiel sei etwa die Bankenunion, die nationale Kompetenzen in der Finanzmarktaufsicht auf die europäische Ebene verlagerte. "Ohne EU-Gesetzgebung wäre das nicht möglich gewesen", so Ondarza.
Trotzdem ist es nicht selten, dass führende europäische Staatsmänner und -frauen ihre Vorstellungen lieber ohne die EU-Institutionen umsetzen wollen. "Politiker wie Angela Merkel möchten Prozesse in Brüssel unter der Kontrolle der Staats- und Regierungschefs halten", erklärt Wichard Woyke, Politikwissenschaftler und Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Brexit - ein Schock
Seit Beginn des europäischen Projekts hätten sich Phasen der verstärkten Integration mit Zeiten abgewechselt, in denen die Entscheidungen vor allem in den Hauptstädten der Mitgliedsstaaten fielen. "In der Griechenlandkrise haben zum Beispiel vor allem die Nationalstaaten miteinander kooperiert. Bei der Europawahl 2014 hat hingegen das Aufstellen der beiden Spitzenkandidaten Juncker und Schulz zu einem mehr an Integration geführt. Schäubles Vorschlag zeigt, dass das Pendel jetzt wieder in die andere Richtung ausschlägt", sagt Woyke.
Dass ausgerechnet der Finanzminister nun mit einem Vorschlag zur Stärkung der Rolle der Mitgliedsstaaten vorgestoßen sei, überrascht den Politikwissenschaftler. Schließlich habe Schäuble in den vergangenen 30 Jahren für eine stärkere Integration gekämpft, so Woyke zu tagesschau.de. "Der Brexit hat ihn offensichtlich geschockt."