Nach der Saarlandwahl "Die SPD steckt im Dilemma"
Der Weg ins Kanzleramt wird für Martin Schulz nicht leicht. "Durch Rot-Rot-Grün, könnte er konservative SPD-Wähler verschrecken", sagt Politologe Spier im Interview. Sein Dilemma: Auch eine erneute Große Koalition sei unpopulär.
tagesschau.de: Nicht einmal im Saarland, wo die SPD durch den Schulz-Effekt beflügelt wurde und die Linkspartei durch Oskar Lafontaine punkten kann, hat es für Rot-Rot gereicht. Wie realistisch ist dann eine rot-rot-grüne Bundesregierung 2017?
Tim Spier: Ich glaube, dass Rot-Rot-Grün auf Bundesebene aus verschiedenen Gründen keine sehr große Chance hat. Zum einen gibt es - anders als auf der Landesebene - bundespolitisch einige Themen, wo es noch große Differenzen zwischen Rot-Grün und der Linken gibt. Das ist vor allem die Außen- und Sicherheitspolitik.
Tim Spier ist seit 2012 Juniorprofessor für Politikwissenschaften an der Universität Siegen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland sowie die Entwicklung der Parteien in Europa.
Zum anderen wird mit der neuen Stärke der SPD ein anderes Bündnis als eine Große Koalition unattraktiver: Aus Sicht der SPD ist es zentral, den Kanzler zu stellen. Und je größer die Chance wird, dass das auch mit der Union als Juniorpartner möglich wäre, desto unattraktiver wird es für die SPD, das Experiment einer rot-rot-grünen Koalition zu wagen.
Wenn aber die CDU stärkste Partei werden sollte, würde ich ein rot-rot-grünes Bündnis nicht ausschließen. Nur müssten dann tatsächlich noch einige Hindernisse aus dem Weg geräumt werden.
"Linkspartei müsste auf Nato-Austritt verzichten"
tagesschau.de: Welche Hindernisse sind das konkret?
Spier: Die Linke steht für den NATO-Austritt. Sie hat eine kritische Position zur EU. Das heißt nicht, dass sie den EU-Austritt will, aber sie will einen grundlegenden Politikwechsel in der EU herbeiführen. Und mit der Linken wären bestimmte Formen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr nicht zu machen.
Bis auf den NATO-Austritt, auf den die Linke meines Erachtens in jedem Fall gänzlich verzichten müsste, sind das Themen, bei denen ein Positionswandel der Linken durchaus möglich scheint. So ist das 1998 auch bei den Grünen gewesen. Aber es sind Hindernisse, die so mit der Union nicht bestehen würden.
tagesschau.de: Gibt es überhaupt eine Wechselstimmung im Land?
Spier: Wechselstimmung insofern, als die Menschen nicht mehr uneingeschränkt zufrieden sind mit der Kanzlerin. Ich interpretiere den Schulz-Effekt auch dahingehend, dass Teile der Bevölkerung sich eine Alternative zu Angela Merkel wünschen. Ich kann nicht erkennen, dass man in der Bevölkerung nach komplett neuen Koalitionsoptionen sucht. Vielmehr glaube ich, es geht vielen Bürgern um eine gewisse Kontinuität, aber eventuell mit einer Alternative an der Spitze.
Kann eine Koalition mit der Linken im Bund halten?
tagesschau.de: Halten Sie die Linke auf Bundesebene für regierungsfähig? Insbesondere auch was das Personal betrifft?
Spier: Die Linke hat in Ostdeutschland schon an einigen Landesregierungen teilgenommen und gezeigt, dass sie regierungsfähig ist. Und auch auf Bundesebene gibt es genügend zuverlässige Politiker, die für Ministerämter in Frage kommen. Allerdings: Wenn man eine Koalition eingeht, muss man sich überlegen, ob die Mehrheit auch über die Dauer der gesamten Legislaturperiode halten wird. Die SPD wird sich also fragen müssen: Wie zuverlässig sind die einzelnen Abgeordneten im Bundestag, wenn es mal zu kritischen Abstimmungen kommt?
Ähnlich wie das bei den Grünen 1998 der Fall war, kann es sein, dass einzelne Abgeordnete der Linken mit bestimmten Entscheidungen nicht einverstanden sind und der Koalition die Unterstützung verweigern oder sogar die Partei oder Fraktion verlassen. Wobei ich die Abgeordneten der Linkspartei hier für disziplinierter halte, als es damals einzelne Grüne gewesen sind.
"SPD könnte mit R2G Wähler verschrecken"
tagesschau.de: Der Schulz-Effekt hat Rot-Rot-Grün (R2G) im Bund überhaupt erst realistisch gemacht. Könnte es sein, dass sich das jetzt negativ auswirkt, weil das "linke Schreckgespenst" doch seine Wirkung zeigt?
Spier: In der Tat wird diese Frage jetzt für die SPD sehr wichtig werden: Welche Wähler gewinnt und welche verliert man, wenn man ein rot-rot-grünes Bündnis anstrebt? Die SPD könnte damit riskieren, eher konservativ orientierte SPD-Wähler zu verschrecken. Und wenn man sich die Wählerwanderung bei der Saarlandwahl anschaut, kann man das bereits beobachten: Ein Teil der SPD-Wähler hat Union gewählt.
Wir sehen immer wieder, dass es taktisches Wahlverhalten von Anhängern einer Partei gibt, die sich bei der Wahl lieber für einen potenziellen Koalitionspartner entscheiden. Das kennen wir schon lange bei Grünen- oder FDP-Wählern. Aber auch bei SPD-Wählern kann es sein, dass sie sagen: Wir wollen eine Große Koalition und geben dann eben auch mal einer Persönlichkeit wie Annegret Kramp-Karrenbauer ihre Stimme, statt der SPD.
"Gegen Rote-Socken-Kampagne 2.0 wappnen"
tagesschau.de: Wie löst die SPD dieses Problem?
Spier: Ein Lagerwahlkampf wäre sicher nicht zielführend. Die SPD muss einen Wahlkampf der Eigenständigkeit führen. Sie muss glaubhaft machen, dass sie den Anspruch hat, stärkste Partei zu werden und den Kanzler zu stellen. Es wäre wohl nicht gut, R2G komplett auszuschließen. Aber man müsste deutlich machen, dass diese Möglichkeit nur unter bestimmten Umständen in Betracht kommt, um sich nicht zu angreifbar zu machen gegenüber einer eventuellen Rote-Socken-Kampagne 2.0 der Union.
Andererseits steckt die SPD im Dilemma: Denn sie wird sich auch hüten müssen, die Fortsetzung der Großen Koalition anzustreben. Denn das ist auch nicht besonders populär.
"Schulz spricht auch Nichtwähler an"
tagesschau.de: Auch thematisch könnte es eng werden für Rot-Rot-Grün. Schulz fischt mit seinem Themenschwerpunkt Soziale Gerechtigkeit ja im linken Lager. Nehmen sich die linken Parteien da nicht gegenseitig die Wähler weg?
Spier: Man darf nicht unterschätzen, dass eine Zielgruppe eines SPD-Wahlkampfs mit Schwerpunkt Soziale Gerechtigkeit auch Nichtwähler beziehungsweise potenzielle AfD-Wähler sind. Das ist eine von etablierten Parteien schwer zu erreichende, prekäre Bevölkerungsgruppe, die zur Protestwahl neigt. Und im Moment schreit die AfD am lautesten und präsentiert mit den Flüchtlingen Sündenböcke für die sozialen Probleme dieser Gruppe.
Aber die eigentlichen Probleme liegen ja nicht dort. Insofern halte ich den Kurs von Martin Schulz für durchaus sinnvoll, weil er nicht nur im linken Lager fischt, sondern auch potenziell in der Lage ist, der AfD Wähler abspenstig zu machen. Andererseits liegt genau in dieser Wählergruppe auch ein Potenzial der Linkspartei. Die könnte so Wähler an Schulz verlieren.
Linkspartei verliert nach Koalitionsbeteiligung regelmäßig
tagesschau.de: Tut sich die Linkspartei überhaupt einen Gefallen, wenn sie Regierungspartei wird?
Spier: Folgt man der Logik, vor allem Wählerstimmen maximieren zu wollen, sicherlich nicht. Wir wissen von den bisherigen Landtagswahlen, dass die Linke nach Koalitionsbeteiligungen immer verloren hat. Denn sie ist eine Partei, die zumindest zu einem bestimmten Prozentsatz eine Protestwählerschaft hat. Für den Wähler kann es enttäuschend sein, wenn er mit seiner Stimme ein Statement gegen die etablierten Parteien setzen wollte und sich die Linkspartei dann an der Regierung beteiligt. Das würde im Bund sicher auch passieren.
Aber eine Partei verfolgt ja auch andere Ziele: Sie will Inhalte umsetzen. Das geht nur oder vor allem in Regierungsverantwortung. Und eventuell gibt es auch Personen in einer Partei, die mal in Regierungsverantwortung kommen wollen. Das ist zwar dann nicht offizielles Ziel der Partei, aber es könnte erklären, warum auch mal unliebsame Entscheidungen innerhalb einer Partei getroffen werden.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.