
Berlin Outsourcing bei Lieferando: Berliner Fahrer befürchten massive Einschnitte
Beim Kurierdienst Lieferando haben die Arbeiter:innen viel erreicht: Es gibt einen Betriebsrat und Festanstellungen. Jetzt aber befürchten die Mitarbeitenden Einschnitte, denn der Konzern testet ein neues Modell. Von F. Grieger, J. Wiese und S. Goldau
Für die meisten Fahrer ist der Weg nach Spandau die letzte Fahrt des Tages. Zuvor haben sie stundenlang zick-zack durch Berlin Burger, Pommes oder Currys ausgeliefert. An diesem Abend steht die Betriebsratswahl für knapp 2.000 aktive Lieferando-Kuriere aus Berlin und Potsdam an. Das Zusammentreffen im Wahllokal ist einer der wenigen Momente des Austauschs zwischen den sonst allein fahrenden Ridern.
Die Stimmung aber ist gedrückt. Warum - das möchten die Fahrer nur anonym erklären. "Bis letztes Jahr habe ich immer gesagt: Lieferando ist eine der besten Firmen, für die ich je gearbeitet habe", sagt ein junger Mann. "Jetzt muss ich leider sagen, dass es eine der schlechtesten ist."

Spandau als Testgebiet für neues Beschäftigungsmodell
Was ist passiert? "Von einem Tag auf dem anderen konnte ich mich in Spandau, wo ich immer arbeite, nicht mehr in die App einloggen. Das war ein Schock", heißt es vom selben Mitarbeiter. Ein anderer zeigt auf seinem Handy eine Nachricht aus der App, in der er seine Arbeitsanweisungen erhält. Dort heißt es, er solle jetzt - statt in Spandau auszuliefern - nach Charlottenburg-Wilmersdorf oder Steglitz-Zehlendorf fahren. Und: "Das Einloggen außerhalb der oben genannten Bezirke kann als Nichtbefolgen einer Arbeitsanweisung gewertet werden und zu disziplinarischen Maßnahmen wie (…) Kündigung deines Vertrages führen."
Der Grund: In Spandau setzt Lieferando seit Kurzem auf das so genannte Flottenpartnersystem. Konkret heißt das: Das Unternehmen lagert die Kurierfahrten an ein Subunternehmen aus. Die Lieferando-Fahrer in Spandau müssen nun einen längeren Arbeitsweg in Kauf nehmen und in anderen Bezirken um weniger Aufträge konkurrieren. Die Alternative lautet: Sie wechseln zum Subunternehmer Fleetlery, der nun in Spandau ausliefert, und damit nehmen veränderte Arbeitskonditionen in Kauf. Fleetlery soll nach rbb-Informationen von den Fahrern für jeden Auftrag eine Vermittlungsgebühr fordern. Statt garantiertem Mindestlohn und Festanstellung werde nun pro Lieferung gezahlt.
Flottenpartnersystem ist weit verbreitet
Lieferando schreibt auf Anfrage von rbb24 Recherche: "Die Auslieferung durch darauf spezialisierte Lieferpartner ist branchenüblich." Tatsächlich arbeiten die Konkurrenten von Wolt und Uber Eats bereits seit Langem mit dem Flottenpartnersystem. Bei Lieferando soll es sich jedoch nur um einen Test "in sehr kleinem Umfang zu Vergleichszwecken" handeln, "ohne dass dies das Direktanstellungsmodell unserer konzernangehörigen Logistikgesellschaft ändert".
Zu konkreten Fragen zu den Arbeitsbedingungen beim Subunternehmer verweist Lieferando auf den Flottenpartner Fleetlery. Doch der lässt Fragen unbeantwortet.
Bei Lieferando liefern kooperierende Restaurants mit eigenen Fahrern einen Großteil der Bestellungen aus. Nur einen kleinen Teil übernehmen direkt angestellte Lieferando-Fahrer. Die befürchten nun, dass von diesem Teil nach dem Test in Spandau immer mehr an Flottenpartner ausgeweitet wird – und damit mühsam erkämpfte Erfolge bei den Arbeitsbedingungen in Gefahr sind. Für die direkt bei Lieferando angestellten Fahrer gilt: Sie erhalten den Mindestlohn unabhängig von der Anzahl der Fahrten und können durch einen Betriebsrat mitbestimmen. Standards, die in dieser Branche absolut kein Standard sind.
Sonja Engel von der Beratungsgesellschaft Arbeit Gestalten, die im Auftrag des Senats die Arbeitsbedingungen in der Lieferkurierbranche untersucht hat, weist auf diverse Probleme bei den Unternehmen hin: "Das fängt an bei Fragen der Arbeitszeit und der Schichtplanung, geht über schnelle Kündigungen und Lohnvorenthaltung bis zur Vorenthaltung von Urlaubsansprüchen." Auch die Frage der Altersvorsorge sei für viele Fahrer ungeklärt.
Engel teilt die Sorge der Lieferando-Fahrer: "Bei den Subunternehmen gehen wir davon aus, dass die Arbeitsbedingungen schlechter sind als bei Lieferando, was ganz maßgeblich daran hängt, dass bei Lieferando ein Betriebsrat etabliert wurde."
Modell Österreich: mehr als 1.000 Fahrer gekündigt
Der Betriebsrat hatte sich gemeinsam mit der Gewerkschaft NGG zum Ziel gesetzt, als nächstes einen Tarifvertrag zu erkämpfen. Jetzt gebe es andere Sorgen, sagt Betriebsrat Mo, der seinen vollen Namen nicht nennen möchte. "Wir haben schon letztes Jahr davor gewarnt, dass Lieferando Schritte in Richtung Wolt-Uber-Amazon-System geht und auf Flotte umstellt. Das heißt, dass immer mehr Risiko und finanzielle Belastung auf Subunternehmen oder Scheinselbständige ausgelagert wird", sagt er. "Jetzt haben wir außerdem die Nachricht bekommen, dass in Österreich der Betrieb komplett umgestellt wurde."
Dort beendete Lieferando auf einen Schlag die Verträge mit knapp 1.000 Fahrern und bietet Ihnen stattdessen nun Arbeit auf selbstständiger Basis an.
Lieferando Deutschland weist daraufhin, dass Lieferando in Österreich ein anderes Unternehmen sei. In Deutschland seien solche radikalen Schritte nicht geplant.
Für EU-weite einheitliche Standards soll nun die "EU-Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit" sorgen. Diese wurde im Dezember 2024 verabschiedet. Ihre Umsetzung steht in Deutschland noch aus. Die Beraterin Sonja Engel fordert dabei, diese "so auszugestalten, dass es möglichst wenig Schlupflöcher für Plattformen gibt, um doch Arbeitsrechte und Sozialrecht grundlegend zu unterlaufen".

Scheinselbständigkeit bei App-Arbeit umstritten
Ein Ziel der gesetzlichen Leitlinie ist auch, mehr Klarheit in die umstrittene Frage der Scheinselbstständigkeit bei App-basierter Arbeit zu bringen. Diese muss immer im Einzelfall geklärt werden – notfalls vor dem Arbeitsgericht. Die Beweislast für eine Scheinselbstständigkeit liegt dann bei den Arbeitnehmenden.
Die neue EU-Richtlinie soll das ändern. Sie sieht vor, bei der Plattformarbeit davon auszugehen, dass es sich um abhängige Beschäftigung und nicht um Solo-Selbstständigkeit handelt. Die Beweislast soll in Zukunft beim Arbeitgeber liegen.
Doch die EU-Richtlinie muss erst bis 2026 umgesetzt werden. Beim neu gewählten Lieferando-Betriebsrat macht man sich schon jetzt auf neue Konflikte gefasst. Sami, neuer und alter Betriebsrat auf der Liste der "Selbstorganisierung Lieferando Workers Collective", die knapp 80 Prozent der Stimmen holte, kündigt an: "Wir werden dafür kämpfen, die Rider vor einem solchen (Subunternehmer-)System zu schützen, von dem wir schon schlechte Beispiele von den anderen Firmen haben."
Sendung: Abendschau, 24.03.2025, 19.30 Uhr