Interview zum Koalitionsvertrag "Das ist ein verzagtes Zukunftskonzept"
Die SPD werde in einer Großen Koalition diesmal nicht auf Augenhöhe regieren, sondern Juniorpartner der Kanzlerin sein, meint der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer im tagesschau.de-Interview. Merkels Politikstil habe sich erneut durchgesetzt: Kleine Schritte und bloß keine Visionen.
tagesschau.de: Der Koalitionsvertrag steht unter dem Vorbehalt der Zustimmung der SPD-Basis. Für wie groß halten Sie die Gefahr, dass die Mitglieder die angestrebte Koalition noch kippen?
Gero Neugebauer: Die Gefahr ist geringer geworden, seitdem die Mitglieder mit dem recht neuen Argument weichgeklopft werden: Wenn ihr Euch nicht wie der Vorsitzende verhaltet, dann ruiniert ihr die Partei und macht sie politikunfähig, weil dann Neuwahlen drohen. Dann könne die SPD noch weniger Stimmen bekommen als jetzt und damit auf Jahre hinaus von der Regierungsverantwortung ausgeschlossen sein.
Gero Neugebauer studierte Politik- und Sozialwissenschaften. Bis 2006 unterrichtete er hauptamtlich am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Er war dort danach als Lehrbeauftragter tätig und arbeitet als politischer Publizist. Schwerpunkte seiner Forschung sind das deutsche Parteiensystem sowie Wahlen und Wahlverhalten.
SPD muss Verhandlung als Erfolg darstellen
tagesschau.de: Werden die Mitglieder dieser Logik Ihrer Ansicht nach mehrheitlich folgen?
Neugebauer: Die einen werden sagen: Mir ist die Identität der Partei wichtig - bestimmte Parteiziele fehlen im Vertrag. Beispielsweise sieht der Vertrag derzeit nur "die doppelte Staatsbürgerschaft light" vor. Manche ärgern sich, dass die Steuererhöhungsfrage ohne Not aufgegeben wurde.
Anderen werden die vielen kleinen Punkte, die sozialdemokratisch sind oder klingen, reichen, um zuzustimmen. In den nächsten Tagen wird die Frage sein, wie es der SPD-Führung gelingt, ihre Verhandlungserfolge an der Basis, in den Regionalkonferenzen, vor allem auch in der Internetkommunikation zu vermitteln.
tagesschau.de: Wie bewerten Sie die Kritik, es sei undemokratisch, dass so eine kleine Gruppe über ein Votum der Wähler bei der Bundestagswahl entscheiden kann?
Neugebauer: Wir wählen eben nur Parteien. Wenn dann eine Koalition eingegangen wird, die ein Koalitionspartner von einem Mitgliedervotum abhängig macht, dann hat das im Fall der SPD zwei gute Gründe. Die Partei ist in sich sehr gespalten, was die Frage der Koalition angeht. Mit dem Votum kann eine Legitimation für das Handeln oder den Verzicht erworben werden. Das erhöht auch die Attraktivität einer Partei, die sich als Mitgliederpartei definiert.
tagesschau.de: Im Vertrag steht vieles unter Finanzierungsvorbehalt, aufbauend auf der Annahme weiterhin sprudelnder Steuern. Für wie glaubwürdig halten Sie damit die Aussage der Verhandler, dass die Finanzierung seriös ist?
Neugebauer: Das ist genauso seriös wie Steuerschätzungen. Man hat wenig Einfluss auf die Höhe der künftigen Steuerzuflüsse – insofern muss man alle Aussagen über Projekte, die an zusätzliche Steuereinnahmen geknüpft werden, mit Vorsicht genießen.
tagesschau.de: Im Vergleich zur ersten Großen Koalition in der Kanzlerschaft Merkel ist das Kräfteverhältnis ein anderes: Die SPD hat weit weniger Wählerstimmen als die Union und viele Streitthemen stehen an: Kann die CDU alles dominieren und die SPD als Juniorpartnerin behandeln?
Neugebauer: Ohne Zweifel ist die SPD Juniorpartnerin und nicht in der gleichen Situation wie 2005. Sie kann vielleicht an manchen Stellen versuchen, Interessengegensätze und Konflikte zwischen CDU und CSU auszunutzen. Ob ihr das aber gelingt, wage ich zu bezweifeln. Das Problem ist, dass die SPD in dieser Koalition eigentlich die FDP ersetzt, zwar möglicherweise ein Ministerium mehr hat, aber nicht die Kapazität, um die Mehrheit der Regierung zu einem bestimmten Handeln zu zwingen.
tagesschau.de: Die SPD könnte theoretisch ihr Gewicht im Bundesrat als Druckmittel benutzen.
Neugebauer: Ja, allerdings entspricht das nicht dem Verhalten von Regierungen im Bund und nicht den Interessen der Länder. Letztere haben häufig länderspezifische, weniger parteidefinierte, Interessen. Die SPD ist nicht auf Augenhöhe mit der Union, da wird auch der Titel "Vizekanzler" nicht helfen.
tagesschau.de: Rot-Grün hatte den großen Reformanspruch, ein ganzes Jahrzehnt zu definieren, die nachfolgende Große Koalition wurde eher als "Politik der kleinen Schritte" bewertet. Geht es jetzt so weiter?
"Frei von Leitideen und Visionen"
Neugebauer: Wir haben im wesentlichen ein relativ verzagtes Zukunftskonzept. "Deutschlands Zukunft gestalten", die Überschrift über dem Koalitionsvertrag, ist eine Banalität. Die Politik beginnt, einige Probleme in der Alterssicherung und in der Bildungspolitik zu lösen, die in der Vergangenheit entstanden, aber dort nicht gelöst wurden, obwohl sie schon in vergangenen Koalitionsverträgen erwähnt waren. 2005 hätte die SPD auch schon den gesetzlichen Mindestlohn fordern können.
Was wir gegenwärtig sehen, ist ein Ausdruck des Politikstils von Frau Merkel. Ihre Devise heißt: auf Sicht zu fahren, denn hinter der Ecke könnte was sein, was ich nicht sehe. Und was ich nicht sehe, will ich nicht in meine politischen Überlegungen einbeziehen und mich darauf nicht vorbereiten. Dass "auf Sicht fahren" führt zu einem defensiven Politikkonzept, das sich damit begnügt die Gegenwart zu verwalten und Fehler aus der Vergangenheit zu korrigieren.
Es gibt keine als Leitidee funktionierende Vision von Deutschland in Europa oder "Deutschland in zehn Jahren". "Deutschlands Zukunft gestalten" heißt im Kontext der Koalitionsvereinbarung: Sehen wir mal zu, wie wir über die nächsten Jahre kommen. Über größere Probleme wie Energiewende oder Klimaschutz machen wir uns nur die notwendigsten kurzfristigen Gedanken.
tagesschau.de: Sie waren selbst in der Bundespressekonferenz bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages dabei: Empfanden Sie das zur Schau gestellte teilweise humoristische Selbstbewusstsein der drei Protagonisten als angemessen?
Neugebauer: Das hat einen hohen Symbolwert. Man will Optimismus verströmen. Es soll Misstrauen gegenüber den Personen und der Konstellation beseitigen. Ob es gelingt, weiß ich nicht. Wenn sie so fröhlich sind, wie sie sich geben, müssen sie bewusst geleugnet haben, dass sie die Schwierigkeiten wahrnehmen, die vor ihnen liegen.
Das Interview führte Corinna Emundts, tagesschau.de