Interview

Experte analysiert NATO-Gipfel in Wales "Im Nachhinein ist man immer klüger"

Stand: 04.09.2014 16:35 Uhr

Kein kalter Krieg, aber ein Klimawandel - das Verhältnis der NATO zu Russland verändert sich grundlegend. Im Interview mit tagesschau.de erklärt Sicherheitsexperte Karl-Heinz Kamp, wie das Militärbündnis auf Putin reagieren sollte und ob sich der Westen hat einlullen lassen.

tagesschau.de: Der Gipfel von Wales steht im Zeichen der Neu- und Umorientierung. Wohin führt dieser Kurswechsel der NATO?

Karl-Heinz Kamp: Die NATO wird sich nicht völlig umorientieren, was ihr strategisches Konzept angeht. Das besteht nach wie vor aus den drei Komponenten Verteidigung des Bündnisgebiets, Krisenmanagement in anderen Regionen und Pflege von Partnerschaften im  Sinne der vorbeugenden Sicherheitspolitik.  Durch die Ukraine-Krise verändert sich aber die Reihen- oder Rangfolge der Komponenten, wahrscheinlich mit einem Schwerpunkt in Richtung Verteidigung. Dieser Prozess wird nun eingeleitet.

Abgeschlossen werden kann der Prozess aber erst, wenn wir Antworten auf mehrere Fragen haben. Sind die Geschehnisse im Nahen und Mittleren Osten Zeichen einer aktuellen Krise, die irgendwann zu Ende ist und zu einer neuen Ordnung führt? Oder geht es hier um den Verlust von Staatlichkeit? Mit amorphen Institutionen können Sie keine Partnerschaft unterhalten. Bezogen auf die Ukraine-Krise wissen wir auch nicht, was Waldimir Putin langfristig will. Wir wissen nur, dass in der jetzigen Situation unser Handwerkszeug nicht mehr richtig greift.

Es wird aber mehrere Treffen brauchen, um den Supertanker NATO auf einen Kurs zu bringen, der der gegenwärtigen Sicherheitslage entspricht.

Zur Person
Seit 2013 ist Karl-Heinz Kamp Direktor für Weiterentwicklung an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Vorher war er als Research Director am NATO Defense College in Rom und als Koordinator Sicherheitspolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung tätig. Kamp hat in Bonn Geschichte und Sozialwissenschaften studiert.

tagesschau.de: Sind sich die 28 NATO-Staaten darüber einig? Oder fällt die Analyse unterschiedlich aus?

Kamp: Bezogen auf das Verhältnis zu Russland herrscht Konsens, dass es sich nicht um eine Schlechtwetterfront handelt, sondern um einen Klimawandel. Fraglich ist, inwieweit der Klimawandel an die Person und die Amtszeit Putins gebunden ist. Oder ob Russland zu einem imperialen Handeln zurückkehrt, was uns die nächsten zehn oder 20 Jahre begleitet.

tagesschau.de: Bedeutet das womöglich eine Rückkehr zum Kalten Krieg?

Kamp: Der Vergleich hinkt. Selbst ein konfrontatives Russland von heute ist mit der Machtfülle der Sowjetunion in den 1970er- und 80er-Jahren nicht zu vergleichen. Darüber hinaus sieht die Welt inzwischen ganz anders aus. Europa spielt eine sehr viel größere Rolle als damals.

"Die NATO hat die Krise nicht befördert"

tagesschau.de: Auf welche Zeichen im Vorfeld der Krise hätte der Westen und vor allem die NATO eher und schärfer reagieren müssen?

Kamp: Im Nachhinein ist man immer klüger. Da sind die, die heute sagen, der Westen habe sich von Putin einlullen lassen. Aussagen, die man so vor zwei, drei Jahren auch nicht gehört hat. Da sind die, die heute sagen, was die NATO alles falsch gemacht hat. Vorzugsweise ehemalige Militärs beklagen, man habe Russland in die Ecke getrieben. Auch das hat man von eben diesen Militärs in ihrer aktiven Zeit nicht gehört.

Ich glaube, dass die NATO es gut verstanden hat, die Balance zu finden: Die Partnerschaft mit Russland gemeinsam mit den Mitgliedsstaaten zu pflegen, die Russland gegenüber immer skeptisch waren, wie Polen zum Beispiel.

tagesschau.de: Stärkt Putin also die NATO - unfreiwillig?

Kamp: Das ist eine These, über die sich in Talkshows wunderbar streiten lässt. Sie trifft aber nicht zu. Die NATO hat die Ukraine-Krise nicht befördert. Der NATO wird auch keine Extra-Portion Viagra zuteil, damit sie endlich einmal ihre Standfestigkeit beweisen kann.

Bevorzugt hätte man ein kooperatives Russland. Denn die NATO und der Westen sind in vielen Fragen auf die Kooperation Russlands als einem großen und wichtigen Land angewiesen. Das Vorgehen in Bezug auf Syrien oder Iran muss mit Russland, immerhin permanentes Mitglied im Weltsicherheitsrat, abgestimmt werden. Sollten zum Beispiel in der Arktis zwei Tankschiffe kollidieren, kann nur Russland helfen. Nur Russland hat die entsprechenden Eisbrecher.

Die Bundesakademie für Sicherheitspolitik
Die Bundesakademie für Sicherheitspolitik hat den Auftrag, ausgewählte Führungskräfte ressortübergreifend zu sicherheitspolitischen Fragestellungen weiterzubilden. Die Bundesakademie ist direkt der Bundesregierung zugeordnet. Sie untersteht dem Bundessicherheitsrat als ihrem Kuratorium. In diesem Kabinettsausschuss unter dem Vorsitz der Bundeskanzlerin fallen unter anderem die Entscheidungen über Rüstungsexporte.

tagesschau.de: Was bezweckt Putin mit seinem Verhalten?

Kamp: Das Problem ist: Der russische Präsident macht offensichtlich eine andere Kosten-Nutzen-Rechnung auf, als wir das gemeinhin tun. Nach unserem Verständnis schadet er Russland eher, als dass er seinem Land nutzt. So hat das Krim-Abenteuer durch den Absturz russischer Aktien Milliarden an Rubel vernichtet.

Folglich müssen für Putin andere Beweggründe wie nationaler Stolz oder Größe des Russentums wichtiger sein. Er hat darauf spekuliert, dass die NATO darauf verzichtet, für die Ukraine als Nicht-NATO-Land den dritten Weltkrieg zu beginnen. Damit hatte er recht. Falsch eingeschätzt hat er den Grad der Einigkeit der NATO. Den Grad der Entschlossenheit, auf einen Völkerrechtsbruch zu reagieren.

Alles eine Frage des Geldes

tagesschau.de: Ist der Readiness Action Plan, der in Wales beschlossen werden soll, die richtige Antwort?

Kamp: Die NATO muss zum einen das Signal senden, dass sie ihr Territorium zu verteidigen in der Lage ist – zur Not auch militärisch. Gleichzeitig muss sie den Mitgliedstaaten im Osten deutlich machen: Wir werden euch nicht im Stich lassen. Dafür muss die NATO schneller als bisher reagieren können. Man muss also Verteidigung wieder als das Kerngeschäft begreifen, nicht das Krisenmanagement wie zum Beispiel in Afghanistan.

tagesschau.de: Warum sollte der Readiness Action Plan besser funktionieren, als die viel gelobte, aber wenig effektive NATO Response Force NRF?

Kamp: Ob die NRF effektiv ist, wissen wir nicht. Sie ist nie eingesetzt worden. Gedacht war sie vor allem für das Krisenmanagement. Jetzt reden wir aber über die Vorbereitung eines Bündnisfalls, auch wenn ich mir den derzeit nicht vorstellen kann. Trotzdem: Im Falle des Falles müssen die Kräfte schnell genug einsetzbar sein. Genau das will man jetzt erreichen.

tagesschau.de: Wie teuer wird das für Deutschland?

Kamp: Das hängt von den Details ab. Deutsche Kampfflugzuge betreiben jetzt schon ein stärkeres Air Policing an der baltischen Grenze und beteiligt sich an der dortigen Luftraumüberwachung. Die Hauptquartiere in Osteuropa sind personell verstärkt worden, die Übungen ausgeweitet worden.

Die NATO insgesamt muss darüber entscheiden, was ihr die schnelle Reaktionsfähigkeit wert ist. Eine grundlegende Verbesserung der Fähigkeit gibt es aber nicht ohne Mittel. Das kann eine Umverteilung der Verteidigungshaushalte bedeuten, zum Beispiel durch mehr europäische Kooperation, aber auch eine Erhöhung.

Der Readiness Action Plan
Der Readiness Action Plan sieht vor, in Mittel- und Osteuropa fünf neue Stützpunkte aufzubauen und eine vermutlich 4000 Soldaten starke schnelle Eingreiftruppe aufzustellen: Die sogenannte "Speerspitze" (Very High Readiness Task Force) hätte dann den Umfang einer Brigade. Sie soll binnen Tagen einsatzbereit sein – mit Land-, Luft- und Marine-Streitkräften. Die Sperrspitze wäre Teil der NATO Response Force (NRF). Bislang sind etwa 13.000 Soldaten innerhalb von fünf bis 30 Tagen einsetzbar, etwa 40.000 innerhalb von sechs Monaten. Nach Ansicht der NATO dauert das zu lange.

tagesschau.de: Diskutiert wird darüber, die Ausgaben für Verteidigung grundsätzlich am Bruttoinlandsprodukt zu orientieren. Auch Deutschland soll zwei Prozent seines BIPs aufwenden. Wer ist dafür, wer ist dagegen?

Kamp: Im Falle von Griechenland würde Deutschland gar nicht wollen, dass das Land so viel für Verteidigung ausgibt. Die sollen ihr Geld lieber für den Schuldenabbau verwenden. Mancher osteuropäischer Staat dagegen könnte ruhig nachlegen.

Deutschland hat ein sehr großes BIP. Bei zwei Prozent wäre der deutsche Verteidigungsetat dann größer als der englische oder der französische. Darauf würden London, Paris oder auch vor allem Warschau mindestens skeptisch reagieren. Wichtiger als das "Wie viel" ist also das "Was"? Welche Art von Fähigkeit und Ausrüstung kann man für welches Geld kaufen?

Deutschland als Schaltstelle

tagesschau.de: Das deutsch-russische Verhältnis gilt als ein besonderes. Was bedeutet das für die deutsche Position und die deutsche Positionierung innerhalb der NATO?

Kamp: Deutschland tut das, was auf der Münchener Sicherheitskonferenz angekündigt worden ist: Es engagiert sich außenpolitisch stärker. Aufgrund seiner Größe, aufgrund seiner Lage, aber auch aufgrund der Person der Bundeskanzlerin ist Deutschland die Schaltstelle im aktuellen Konflikt. Kein anderer Staatschef spricht mehr als Angela Merkel mit allen Beteiligten, teilweise täglich.

Deutschland muss auch zwischen Drohgebärde und Diplomatie vermitteln. Für Polen ist die russische Frage zentraler als für Portugal oder Spanien.

Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 04. September 2014 um 20:00 Uhr.