Leben in der Mädchen-WG "Wir werfen niemanden raus"
Eine ungewöhnliche WG in Rheinhessen: Hier leben Kinder und Jugendliche, die nicht mehr bei ihren Eltern sein können. Nach vielen Stationen haben die Mädchen hier einen Ort zum Bleiben gefunden.
Es gibt Rührei. Sophie lädt Mika und Lara eine große Portion auf den Teller und greift sich ein Stück Toast. Zeit fürs Mittagessen in der Wohngruppe. Die Atmosphäre ist entspannt, die Mädels quatschen über ihre Lieblingsserie. Doch das hier ist keine gewöhnliche WG. Hier leben Kinder und Jugendliche, die nicht mehr bei ihren Eltern sein können.
Drogen, Gewalt, Überforderung
Sophie ist 14 Jahre alt, ein Mädchen mit langen dunklen Haaren und blauen Augen. Sie ist seit etwas mehr einem Jahr hier in der Jugendhilfe-Einrichtung. Wenn sie auf die vergangenen Monate zurückblickt, dann war die Zeit "okay", so beschreibt sie es. "Ich bin eigentlich glücklich, wie es gerade so ist, ich bin zufrieden."
Sophie hat in ihrem Leben viel durchgemacht. Schon mit einem Jahr kam sie in eine Pflegefamilie. Ihre Mutter ist süchtig und psychisch krank, erzählt Sophie, während sie mit Mika auf dem Bett in ihrem Zimmer sitzt. Die Mutter konnte sich nicht um Sophie kümmern. In der Pflegefamilie blieb Sophie, bis sie in die Pubertät kam.
Dann begann ein Hin und Her, das viele Kinder hier in der WG kennen: Sophie wechselte mehrmals die Wohngruppen, zwischendurch gab es kurze Phasen bei ihrer Mutter, bis sie schließlich in die Einrichtung in Rheinhessen kam.
"Wir bieten ein Zuhause"
Die Wohngruppe liegt in einem kleinen Dorf in Rheinhessen in der Nähe von Bad Kreuznach. Um die Kinder und Jugendlichen zu schützen, möchte der Leiter der Einrichtung, Patrick Schulze, den genauen Ort nicht nennen. Das Haus hat insgesamt acht Plätze für Mädchen zwischen 13 und 17 Jahren.
Jede Bewohnerin hat ihr eigenes Zimmer. Küche, Bad und Wohnraum teilen sie sich. "Wir bieten den Kindern und Jugendlichen ein Zuhause", erläutert Schulze, "und wollen ihnen helfen, stabile und verlässliche Beziehungen aufzubauen."
Denn genau das haben sie in ihren Elternhäusern nicht erlebt. Stattdessen mussten die Kinder und Jugendlichen häufig traumatische Erfahrungen machen: "Missbrauch, Gewalt, Sucht, Vernachlässigung, das alles sind Dinge, die unsere Bewohnerinnen erlebt haben. Hier in der Einrichtung begleiten wir die Kinder dabei, ihre individuellen Erfahrungen zu verarbeiten", erläutert Markus Spang, der als Sozialpädagoge hier arbeitet.
"Wir wollen Konflikte aushalten und die Kinder so annehmen, wie sie sind, mit allen Schwierigkeiten, die sie mitbringen", sagt Spang, und lächelt liebevoll. Er mag die Mädchen, und sie mögen ihn.
Kinder mit schwierigen Biographien
Mika ist 17 und wurde mit 8 Jahren aus der Familie geholt. "Weil mein Vater ein Alkoholproblem und eine Panikstörung hatte und gewalttätig war, hat das Jugendamt gesagt, dass ich nicht zuhause bleiben kann, weil das Kindeswohlgefährdung ist."
Auch für Mika begann danach eine instabile Zeit: Erst nahmen die Großeltern das Kind, dann ging es wieder zu den Eltern, schließlich in verschiedene Wohngruppen. "Da bin ich dann mehrmals rausgeflogen, weil die mit mir überfordert waren", erzählt Mika.
Konflikte im Alltag lösen lernen
Seit fast drei Jahren hat Mika jetzt hier ein festes Zuhause. Mit festen Bezugspersonen - und klaren Regeln. Hier in der Wohngruppe gibt es ein großes Ziel: Sie wollen niemanden rauswerfen. Doch der Alltag ist nicht immer einfach.
Oft gibt es zwischen den Mädchen Konflikte und immer wieder auch körperliche Auseinandersetzungen. "Das ist nicht so ungewöhnlich hier in der Gruppe", erläutert Pädagoge Spang, "denn es gibt Mädchen, für die war das überlebenswichtig in ihrem alten Umfeld, die Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen. Und wir haben auch keine Mädchen, die depressiv in der Ecke sitzen, sondern Mädels, die Power haben und stark sind."
Enger Kontakt mit Jugendamt, Schule und Eltern
Träger der Wohngruppe ist der Evangelische Verein für Innere Mission in Nassau (EVIM), der mehr als 60 soziale Einrichtungen in Hessen und Rheinland-Pfalz betreibt. Die Erzieherinnen und Pädagogen der Wohngruppen arbeiten eng mit dem Umfeld der Kinder und Jugendlichen, die in ihrer Obhut sind, zusammen: mit der Schule, der Ausbildungsstätte, aber auch mit Ärzten, Therapeuten, dem Jugendamt und schließlich auch den Eltern der Kinder. Denn häufig fällt die Entscheidung, Kinder aus ihren Familien zu nehmen, sogar gemeinsam mit den Erziehungsberechtigten, erläutert Einrichtungsleiter Patrick Schulze.
Die Einrichtung will für die Mädchen ein Zuhause sein - genau das, was viele bis dahin nie kennengelernt haben.
Inobhutnahmen durch das Jugendamt nehmen zu
Die rechtliche Grundlage dafür findet sich im Sozialgesetzbuch. Darin ist festgehalten, dass Eltern Anspruch auf Hilfe zur Erziehung haben, wenn eine "dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist".
Gemeinsam mit dem Jugendamt und den Kindern wird dann die Entscheidung getroffen, das Kind in einer Einrichtung der Jugendhilfe unterzubringen. Wenn Kinder jedoch akut gefährdet sind, weil sie etwa Gewalt ausgesetzt sind oder vernachlässigt werden, muss das Jugendamt die Kinder akut und auch gegen den Willen der Eltern "in Obhut nehmen".
Bundesweit steigt die Zahl der so genannten Inobhutnahmen von Minderjährigen durch Jugendämter. Das geht aus dem Kinder- und Jugendhilfereport 2024 hervor. Gleichzeitig ist die Zahl der Betreuungsplätze nicht mehr geworden.
Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe
Verschärft wird das Problem dadurch, dass viele Jugendhilfeeinrichtungen unterbesetzt sind und händeringend Personal suchen. "Der sozialpädagogische Arbeitsmarkt ist leergefegt", heißt es im Kinder- und Jugendhilfereport.
Anfragen von Jugendämtern aus ganz Deutschland
Auch Patrick Schulze hat in seiner Einrichtung damit zu kämpfen, dass die Nachfrage nach Plätzen viel größer ist als der Platz, den er anbieten kann. "Unser Trägerverein bekommt jede Woche mindestens 15 Anfragen von Jugendämtern", erzählt Schulze, "und zwar aus der gesamten Republik. Den Bedarf können wir nicht bedienen."
Zudem ist das Personal knapp. Die Pädagogen in seiner Wohngruppe arbeiten im Schichtbetrieb, sind immer zu zweit 24 Stunden da, an 365 Tagen im Jahr. Wenn jemand kurzfristig ausfällt, hat er oft Probleme, die Löcher im Dienstplan zu stopfen.
Mehr Hilfe durch Prävention
Schulze wünscht sich, dass Kinder, die akut in Not sind, nicht in Jugendhilfeeinrichtungen in ganz Deutschland verteilt werden müssen, so wie aktuell. "Im Moment werden die Kinder in Einrichtungen durch ganz Deutschland geschickt, von Süden nach Norden, das kann nicht das Ziel sein."
Er und seine Kollegen fänden es, dass mehr für Prävention getan wird: "Wir müssen als Jugendhilfe den Familien viel mehr vor Ort helfen und frühzeitig schauen, was sie an Hilfe brauchen", so Schulze. Damit weniger Kinder ihre Familien verlassen müssen.
Denn schließlich sehnen sich fast alle Kinder und Jugendlichen nach einem guten Kontakt zu ihren Eltern, erläutert der Pädagoge, und nehmen diese häufig auch dann noch in Schutz, wenn sie viel Leid in ihrem Leben erfahren haben.
Auch die 14-Jährige Sophie hat nur einen großen Wunsch: "Ich träume davon, dass ich irgendwann wieder zu meiner Mutter ziehen darf."