Evolution Entstand der Vormensch in Europa?
Auf dem Balkan lebte vor 7,2 Millionen Jahren eine Vormenschen-Art. Das folgern Forscher aus Fossil-Funden. Sie vermuten: Die Wege von Mensch und Affe trennten sich erstmals in Europa – nicht in Afrika.
Schimpansen sind die nächsten Verwandten des Menschen. Bisher glaubten Wissenschaftler, dass sich die Abstammungslinien in Afrika getrennt haben - und zwar vor fünf bis sieben Millionen Jahren. Darauf deuten genetische Untersuchungen ebenso wie Fossilfunde in Afrika hin. Ein internationales Team unter Beteiligung von Madelaine Böhme, Forscherin an der Universität Tübingen, hat nun ein alternatives Szenario entwickelt: Demnach vollzog sich die Trennung von Menschenaffe und Vormenschen in Südeuropa.
Die Forscher stützen sich auf die Analyse zweier Fossilfunde: einem Unterkiefer aus Athen und einem Zahn aus Bulgarien. Beide Fundstücke sind zwar seit Jahrzehnten bekannt. Der Unterkiefer wurde schon 1944 beim Bau eines deutschen Kriegsbunkers entdeckt. Jetzt aber wurden beide Funde mit modernsten Methoden neu vermessen. Die Forscher kamen zum Ergebnis: Die Fossilien sind, anders als bisher gedacht, nicht einem Menschenaffen, sondern einem Vormenschen (Graecopithecus freybergi) zuzurechnen.
Die Datierung ergab zudem ein Alter von zirka 7,2 Millionen Jahren - demnach hätten Frühmenschen schon mehrere hunderttausend Jahre früher existiert als bisher gedacht. "Wir waren von unseren Ergebnissen selbst überrascht, denn bislang waren Vormenschen ausschließlich aus Afrika südlich der Sahara bekannt", meint Jochen Fuss von der Universität Tübingen.
Wie kann man einen so alten Zahn eindeutig zuordnen?
Die Forscher haben die Fundstücke mit Hilfe von Computertomografie durchleuchtet, ohne sie zu zerstören. Dadurch ergibt sich ein mikrometergenaues 3-D-Bild, das selbst Strukturen wie den Nervenkanal wiedergibt. Ein entscheidendes "menschliches" Merkmal: Beim Menschenaffen sind die Zahnwurzeln der Mahlzähne getrennt - beim Menschen und Vormenschen sind sie verschmolzen. Das ist auch bei den Funden der Fall. Auch weitere Details sprechen aus Sicht der Forscher dafür, dass es sich um die Reste eines Vormenschen handelt.
Ein entscheidendes "menschliches" Merkmal: Beim Menschenaffen sind die Zahnwurzeln der Mahlzähne getrennt - beim Menschen und Vormenschen sind sie verschmolzen.
Als weiteren Beleg nehmen die Wissenschaftler das damalige Klima. Aus den Sedimenten lässt sich schließen, dass der Graecopithecus in einer savannenähnlichen Landschaft lebte. Die Fundschichten enthalten auch Saharastaub - die Sahara hatte sich also bereits gebildet. Bekannt ist auch, dass um jene Zeit herum das Mittelmeer auszutrocknen begann. Jetzt ziehen die Forscher einen Vergleich zu Ostafrika: Bisher ging man davon aus, dass das Savannen-Klima östlich des Ostafrikanischen Grabens die Menschwerdung begünstigte - insbesondere den aufrechten Gang. Diese These ist in der Wissenschaft als "East Side Story" bekannt. Böhme spricht jetzt bei ihrer neuen Hypothese von einer "North Side Story": Denn wenn es in Südeuropa vor sieben Millionen Jahren ein ähnliches Klima gab, könne die Menschwerdung auch dort begonnen haben.
Stammt der Mensch also gar nicht aus Afrika?
Bisher handelt es sich lediglich um eine Hypothese, die plausibel klingt, aber weitere Beweise braucht. Es ändert sich nichts daran, dass nach heutigem Stand unsere Vorfahren vor mehr als 60.000 Jahren aus Afrika kamen. Zwischen der Abspaltung vom Menschenaffen vor sieben Millionen Jahren und der Entstehung des Homo Sapiens verging also viel Zeit. Vielleicht ist der Graecopithecus von Südeuropa nach Afrika eingewandert und wurde dort unser Vorfahr. Vielleicht ist er aber auch ausgestorben, und der Vormensch hat sich in Afrika noch einmal unabhängig vom Affen getrennt. Klar ist nur: Der Stammbaum des Menschen wird immer komplizierter.