100 Jahre Radio "Achtung! Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin!"
Am 29. Oktober 1923 ging das Radio in Deutschland zum ersten Mal auf Sendung - zunächst ohne große öffentliche Beachtung. Erst mit der Zeit entdeckten Macher und Hörer, welche Möglichkeiten das "neue" Medium bot.
29. Oktober 1923: Am selben Tag, an dem in Ankara die Republik Türkei geboren wurde, fand in Berlin eine ganz andere Revolution statt: "Kinder, das hat gut geklungen! Wir fangen an!", soll Staatssekretär Hans Bredow seinem Team im Reichspostministerium gesagt haben, nachdem am Vormittag ein Konzert probeweise ins Berliner Abgeordnetenhaus übertragen wurde. "Und wann", wollten seine Mitarbeiter wissen. "Heute Abend!"
Noch am selben Tag startete der reguläre Rundfunkbetrieb in Deutschland. Das Wort "Rundfunk" soll Bredow auch erfunden haben.
Der Weg zum Rundfunk
Damit es dazu kommen konnte, musste einiges passieren. Seit Jahrtausenden malen Menschen Bilder und schreiben Texte. Das Festhalten und die Verbreitung von Tönen ist demgegenüber ein sehr junges Phänomen. Die älteste erhaltene Tonaufzeichnung stammt aus dem Jahr 1860 und findet sich, wie viele historischen Tonaufnahmen, im Archivradio des Südwestrundfunks.
1876 zeigt Alexander Graham Bell, wie sich Sprache per Draht in entfernte Gebiete schicken lässt - "one to one", von einem Sender zu einem Empfänger. Was nun noch fehlte, war das "Funken" - die Verbreitung: "One to many". Den Anstoß gibt Heinrich Hertz, der 1886 in Karlsruhe erstmals elektromagnetische Wellen erzeugt - und damit ihre Existenz beweist.
Der nächste Schritt war, die Frequenzen dieser Wellen gezielt einzustellen, so dass sie empfangen werden können. Dies gelingt zum einen dem Physiker Ferdinand Braun, der 1898 eine drahtlose Nachricht von Straßburg in die Vogesen schickt. Zum anderen Guglielmo Marconi, der sogar eine Nachricht über den Atlantik funkt. Beide teilen sich später den Physik-Nobelpreis, werden aber Konkurrenten, als es darum geht, die Standards in der Funktelegraphie zu setzen. Gefunkt werden damals aber nur Morsezeichen, keine Sprache.
Der Erste Weltkrieg als Katalysator des Rundfunks
1913 reiste Bredow, damals noch technischer Direktor von Telefunken, nach New York, um Versuche mit "drahtloser Telefonie" durchzuführen. Gesendet wurde von einem der ersten Wolkenkratzer, dem Tower Building. Der Empfang war noch sehr mäßig. Später, im Ersten Weltkrieg, experimentierte Bredow damit und sendete Unterhaltungsprogramme an die Soldaten in den Schützengräben. "Was mich am meisten beeindruckt hat: Dass es zukünftig möglich sein würde, die Einsamkeit aus dem Leben des Menschen zu verbannen", erinnert sich Bredow später.
Der Krieg spielte auch in anderer Hinsicht eine wichtige Rolle: In Königs Wusterhausen bei Berlin entstand noch vor dem Ersten Weltkrieg eine Militärfunkstation der Obersten Heeresleitung. 1919, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, machen die Alliierten sie zum Eigentum der Reichspost, geleitet von Hans Bredow, der zum Ministerialdirektor aufgestiegen war. Die Station wird vor allem dazu genutzt, Pressemeldungen zu telegrafieren, an Schiffe und ins Ausland. Gefunkt werden dort noch Morsezeichen, die in den rund 80 Empfangsstationen erst mal wieder in Texte umgewandelt werden mussten. Hans Bredow gibt den Auftrag, das zu ändern: Aus der Funktelegrafie soll Funktelefonie werden - Sprache soll also direkt übertragen werden.
"Achtung! Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin"
1920 kam es zur "Ur-Sendung". Von Königs Wusterhausen aus sendete der Techniker Erich Schwarzkopf am 22. Dezember ein kleines Weihnachtskonzert - und spielte selbst dabei die Geige. Es war auch aber noch kein regulärer, offizieller Rundfunkbetrieb; der begann erst am 29. Oktober 1923 mit den berühmten Worten "Achtung! Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin im Vox-Haus auf Welle 400!".
Ansager Friedrich Georg Knöpfe fuhr fort: "Meine Damen und Herren, wir machen Ihnen davon Mitteilung, dass am heutigen Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos-telefonischem Wege beginnt. Die Benutzung ist genehmigungspflichtig." So wurde die Technik damals beschrieben: als drahtlose Telefonie.
Rundfunkbeitrag 1923: 350 Milliarden Mark
Doch die Zahl der Hörer war überschaubar - der Startschuss für das neue Medium fand öffentlich so wenig Beachtung wie später die Geburtsstunde des Internets. Die Menschen hatten andere Sorgen. "Es war die krisenhafte Zeit der Hyperinflation", sagt der Medienhistoriker Hans-Ulrich Wagner vom Leibniz-Institut für Medienforschung. Das zeigte sich auch an der Gebühr, die man bei der Post für eine Lizenz zum Radiohören zahlen musste: Dieser frühe "Rundfunkbeitrag" kostete schlappe 350 Milliarden Mark. Zum Vergleich: Ein Sack Kartoffeln kostete damals 90 Milliarden Mark", sagt Hans-Ulrich Wagner.
Gesprochenes Wort war im Radio anfangs immer live - auch Hörspiele. Sendungen wurden in den ersten Jahren nicht mitgeschnitten oder gar archiviert. Mit der Zeit entdeckten die Radiomacher aber, welche Möglichkeiten das neue Medium bietet. 1929 berichtet Alfred Braun von der Beerdigung von Außenminister Stresemann - die älteste erhaltene Live-Reportage. 1932: das erste Telefon-Interview im Radio. Auch der Sport wird zum Katalysator für Innovationen: Die erste Transatlantik-Live-Reportage war der Boxkampf von Max Schmeling gegen Joe Louis.
"Nur nicht langweilen!" - Rundfunk in der NS-Zeit
Kaum hatte Hitler per Ermächtigungsgesetz Deutschland in eine Diktatur verwandelt (und Hans Bredow ins Gefängnis gesteckt), erklärte Propagandaminister Joseph Goebbels den Intendanten klar: "Der Rundfunk gehört uns!"
Goebbels macht dabei auch deutlich, dass er im Rundfunk keineswegs durchsichtige politische Propaganda erwartet, sondern die Massen viel subtiler beeinflussen will. "Erstes Gesetz: Nur nicht langweilig werden!" Mit Unterhaltung, so Goebbels‘ Devise, lässt sich die Masse besser vereinnahmen als durch Parolen. Und mit dem von den Nazis eingeführten Volksempfänger wurde das Radio im Deutschen Reich zum Massenmedium.
Der Aufbau des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Nach dem Krieg standen die Sender unter Aufsicht der Besatzungsmächte. Die Nachrichten wurden zensiert. Doch am 1. Januar 1948 werden die ersten Sender in Anstalten des öffentlichen Rechts überführt. Und wieder ist es Hans Bredow, der daran maßgeblich mitgewirkt - auch an der föderalen Struktur. Kurz vor der Übergabe im Dezember 1947 erklärt Bredow den Deutschen, was das sein soll, "öffentlich-rechtlicher Rundfunk".
"Er legte auf die Staatsferne sehr großen Wert", erklärt Medienwissenschaftler Wagner im Podcast SWR2 Wissen. 1947 wurde in "Radio Stuttgart" öffentlich noch darüber diskutiert, ob der Rundfunk staatlich oder unabhängig sein solle, ob er unter die Aufsicht des Landtags gestellt werden solle. Bredow hielt von solchen Ideen wenig. "Er war einer derjenigen, der sagte: Seid vorsichtig, das ist gefährlich!", so Wagner.
Die Entwicklung des Radios ist damit nicht zu Ende: UKW, Kulturprogramme, Stereophonie, Autoradio, Verkehrsservice, Popwellen. 2004 waren die ersten Podcasts zu hören. Anfangs waren sie "Sendungen zum Nachhören", inzwischen boomt der Markt, und viele nutzen Podcasts und Streamingdienste als Alternative zum linearen Radioprogramm. Es hat aber nichts daran geändert: Noch immer erreicht der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland übers Radio mit Abstand die meisten Menschen - genau wie in den Anfängen.