Interview zum Stasi-Opfer-Gesetz (2) "Seit 2001 kann ich nicht mehr arbeiten"
tagesschau.de: Nach drei Jahren wurden Sie freigekauft und zogen mit Ihrem Freund, der auch im Gefängnis gesessen hatte, nach West-Berlin. Wie ging es dann weiter?
Sterneberg: Ich versuchte, beruflich dort anzuknüpfen, wo ich aufgehört hatte, in der Gastronomie. Das war aber erst nicht möglich. Ich war über ein Jahr krank. Wir waren teilweise 18 bis 21 Frauen in einer 30 Quadratmeter großen Zelle gewesen - trotzdem war ich menschenscheu. Diese bunte Welt draußen, die vielen Impulse war man gar nicht mehr gewohnt. Es hat lange gedauert, bis ich das sowohl psychisch als auch körperlich schaffen konnte.
Nach der Wende kam der körperliche Zusammenbruch
Dann kam die Wende. Je mehr über die Machenschaften der Stasi bekannt wurde und mit jeder neuen Information aus meiner mittlerweile 4000 Seiten starken Stasi-Akte ging es mir schlechter. Ich war ständig gehetzt, bekam Platzangst, Panikattacken, bis zum körperlichen Zusammenbruch.
Als ich mich an eine Beratungsstelle für Stasi-Opfer wendete, wurde klar, dass ich traumatisiert war. Ich hatte nach dem Freikauf nie über meine Haft gesprochen, auch um die im Gefängnis Zurückgebliebenen nicht zu gefährden. Ich habe dann eine Psychotherapie gemacht. Seit 2001 kann ich dennoch nicht mehr arbeiten und bekomme seitdem Erwerbsunfähigkeitsrente.
tagesschau.de: Wie geht es Ihnen heute?
Sterneberg: Ich bin nicht geheilt, ich kann nur besser damit umgehen. Im vergangenen Jahr ließen ehemalige Stasi-Offiziere bei einer Veranstaltung in der Gedenkstätte Hohenschönhausen verlauten, wir wären rechtskräftig verurteilte Kriminelle. In solchen Momenten geht es wieder los: Ich habe dann wahnsinnig hohen Blutdruck, kann Dinge nicht mehr bewältigen, keine Termine wahrnehmen. Noch immer kann ich kaum irgendwo hingehen, wo viele Menschen sind, zum Beispiel auf Konzerte. Ich bekomme schnell Panikattacken, muss dann in der Nähe von Türen stehen, um eventuell gehen zu können.
Ihr Sohn schämte sich für sie
tagesschau.de: Welche Folgen hat Ihre Vergangenheit für Ihre Familie?
Sterneberg: Meine Ehe ging kaputt. Mein Mann ist im vergangenen Jahr leider viel zu früh gestorben. Ohne je über seine Erlebnisse in der Haft gesprochen zu haben. Unser Sohn ist heute 22. Auch ich habe lange nicht mit ihm über all das geredet, aber er hat natürlich gespürt, dass mit seiner Mutter etwas nicht stimmt. Ich habe ihn dann später in eine Familienberatung geschickt. Dort war er jahrelang. Heute kann er die Biografie seiner Eltern annehmen, liest in den Akten und redet mit mir. Früher hat er sich dafür geschämt.
tagesschau.de: Empfinden Sie die geplante Opferrente trotzdem als Genugtuung?
Sterneberg: Ja. Es ist nicht die Höhe des Geldes. Das kann weder die Gesundheitsschäden noch die Biografien, die kaputten Familien, ungeschehen machen. Aber sie ist ein Zeichen, dass die Politik verstanden hat, worum es eigentlich geht. Ein längst überfälliges Zeichen.
Das Interview führte Nicole Diekmann, tagesschau.de