Interview zum Stasi-Opfer-Gesetz (1) "In der Isolationshaft gab es Wasser und Brot"
Sie wollte aus der DDR flüchten und saß dafür drei Jahre im Gefängnis. Ein normales Leben kann Tatjana Sterneberg bis heute nicht führen - zu tief sind die Narben, die die Haft hinterließ: "Ich bin nicht geheilt, ich kann nur besser damit umgehen", sagt sie tagesschau.de. Die Stasi-Opfer-Rente sei ein "längst überfälliges Zeichen".
Sie wollte aus der DDR flüchten und saß dafür drei Jahre im Frauengefängnis Hoheneck. Ein normales Leben kann Tatjana Sterneberg noch heute nicht führen - zu tief sind die Narben, die die Haft hinterließ: "Ich bin nicht geheilt, ich kann nur besser damit umgehen", sagt sie. Die Stasi-Opfer-Rente, inzwischen vom Bundestag beschlossen, nennt sie ein "längst überfälliges Zeichen". tagesschau.de sprach mit ihr über ihr Schicksal während und nach der Haft und wie sie die Entschädigung beurteilt.
tagesschau.de: Die Große Koalition hat den umstrittenen Gesetzentwurf nun noch einmal nachgebessert, jetzt haben 42.000 Anspruch statt 16.000. Ist das Gesetz dann so in Ordnung?
Tatjana Sterneberg: Die Ungerechtigkeitslücke zwischen Tätern und Opfern ist auch durch die neue Regelung noch immer nicht geschlossen. Alle sollten Geld bekommen, die in DDR-Haft waren oder Repressionen durch die Stasi oder die SED erfahren haben. Dann muss geklärt werden, ob die Ansprüche vererbbar sind. Völlig unberücksichtigt geblieben sind verfolgte Schüler, die zwangsversetzt wurden. Jetzt nur Bedürftige zu berücksichtigen – das ist für mich unerklärlich, im 18. Jahr nach dem Mauerfall.
tagesschau.de: Anspruch auf die Opfer-Rente soll nur haben, wer mindestens sechs Monate in Haft saß. Was halten Sie davon?
Sterneberg: Das ist ungerecht. Wissen Sie, was in sechs Monaten in einer Untersuchungshaftanstalt alles passieren kann? Das kann Auswirkungen bis heute haben - vor allem angesichts der besonderen Behandlungsmethoden der Stasi.
tagesschau.de: Sie selbst saßen drei Jahre im Gefängnis. Warum?
Sterneberg: Ich liebte einen Mann aus West-Berlin und wollte heiraten. Mein Ausreiseantrag 1973 wurde abgelehnt. Mein Freund und späterer Mann und ich bereiteten meine Flucht vor. Wir wurden beide verraten und verhaftet. Ein Jahr verbrachten wir in der Untersuchungshaftanstalt in Berlin-Pankow, dann wurde ich in den Strafvollzug ins Frauengefängnis Hoheneck überstellt, er nach Rummelsburg. Zu drei Jahren und acht Monaten wurde ich verurteilt. Davon habe ich mit Untersuchungshaft drei Jahre abgesessen, mein Freund kam nach zweieinhalb Jahren frei.
Tatjana Sterneberg wurde 1952 in Berlin-Lichtenberg geboren. Sie lernte Restaurantfachfrau und arbeitete bis zu ihrer Verhaftung 1973 als Kellnerin in einem Ost-Berliner Hotel. Nach drei Jahren Haft im Frauengefängnis Hoheneck wurde sie freigekauft und zog nach West-Berlin, wo sie noch heute lebt. Dort arbeitete sie zunächst weiter in der Gastronomie, bis sie 2001 ihre Arbeit aufgeben musste. Grund: Die seelischen und körperlichen Folgen ihres im Gefängnis erlittenen Traumas. Heute bekommt die 55-Jährige eine Arbeitsunfähigkeitsrente und arbeitet in der von ihr gegründeten Informations- und Beratungsstelle für Opfer der SED-Diktatur in Berlin. Manchmal sei das belastend, sagt sie. Aber es freut mich auch zu sehen, wenn die Leute meine Erfahrung mitnehmen. Ich weiß, wovon sie reden. Das fehlt den Betroffenen oft am allerdringlichsten.
"Damals habe ich versucht, mich umzubringen"
tagesschau.de: Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Sterneberg: Wie die Akten heute zeigen, hatte die Stasi für mich eine besonders harte Behandlung vorgesehen: Zum einen, weil man meinte, ich hätte durch meine Arbeit als Kellnerin viele Kontakte zu Fluchthelfern gehabt. Ich verriet aber niemanden. Außerdem habe ich die Haftbedingungen angeprangert. Ich würde gegen die Hausordnung verstoßen, hieß es dann – die niemand kannte.
Ich kam immer wieder in den so genannten strengen Arrest: isoliert, drei Tage lang nur Wasser und Brot, am vierten Tag eine Suppe. Ich habe gegen die Türen getrommelt, die Wachposten haben mich dann niedergeschlagen, in eine Zwangsjacke gesteckt und mir eine Betäubungsspritze gegeben. Von den drei Jahren saß ich 13 Wochen in Isolationshaft. Damals habe ich versucht, mich umzubringen.
Psychopharmaka untergeschoben
tagesschau.de: Welche Folgen hatte die Haft für Ihre Gesundheit?
Sterneberg: Ich hatte eine Hauterkrankung, habe Zähne verloren. Unterleibserkrankungen waren an der Tagesordnung, Kreislauferkrankungen und Übergewicht: Wir hatten keine Bewegung, es gab kein warmes Wasser und kein Obst, kein Gemüse. Später habe ich aus meiner Stasi- Akte erfahren, dass man mir seit Ende der Untersuchungshaft Psychopharmaka untergeschoben hatte, um mich zu sedieren. Ich konnte irgendwann nicht mal mehr sprechen. Trotzdem musste ich im Drei-Schichten-Betrieb arbeiten. Ich habe Bettwäsche genäht – die, wie ich später erfuhr, auch auf westdeutschen Grabbeltischen auslag.
Wie es nach ihrem Freikauf durch die Bundesrepublik mit Tatjana Sterneberg weiterging, warum sie und auch ihr Sohn noch heute unter ihrem Trauma in der Haft leiden, lesen Sie hier, im 2. Teil des Interviews.