Hintergrund

Auschwitz - Symbol für den Holocaust Das beispiellose Verbrechen

Stand: 20.01.2012 09:53 Uhr

Am 20. Januar 1942 trafen sich hohe NS-Funktionäre in einer Villa am Berliner Wannsee, um den systematischen Mord an den Juden Europas zu organisieren. Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz ist heute das Symbol für dieses beispiellose Verbrechen. Es ist Sinnbild für das Leid, das Menschen anderen Menschen zufügen können. Und es steht für einen "Zivilisationsbruch" - dessen Möglichkeit jede Gesellschaft in sich trägt. Denn Auschwitz ist ein Produkt der Moderne und so stetige Mahnung an jede Demokratie.

Von Jan Oltmanns, tagesschau.de

Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 Auschwitz erreichte, bot sich den Soldaten ein grauenhaftes Bild: Nur knapp 8000 Häftlinge in den drei Komplexen des größten deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers waren noch am Leben; die meisten von ihnen Elendsgestalten, die zu krank oder zu schwach für den Marsch in die Lager im Westen waren - fort von der näherrückenden Front. Ein Augenzeuge notiert: "Einige sitzen stur auf der Erde, nur auf Nahrungsmittel reagieren sie. Von Schmutz und Verwahrlosung kann man ihre Züge nicht erkennen. Es ist zu grauenhaft, man kann das nicht beschreiben. Und man kann nicht helfen."

Fast 60.000 Häftlinge aus Auschwitz waren nur wenige Tage vor dem Eintreffen der sowjetischen Soldaten zu Fuß auf die "Todesmärsche" in die eisige Kälte des polnischen Winters geschickt worden, das Regime versuchte in den letzten Kriegsmonaten fieberhaft, die Spuren seiner Taten zu verwischen. Historiker schätzen heute, dass jeder vierte Häftling auf dem langen Marsch in den Westen starb. Sie erfroren, verhungerten oder wurden erschossen, wenn sie nicht mithalten konnten. Diejenigen, die auch diese Tortur überlebten, wurden in die Lager Mittelbau-Dora, Buchenwald, Dachau und Flossenbürg gepfercht. Dort ging das Morden bis zum letzten Kriegstag weiter.

Für viele der Wenigen, die schließlich in Auschwitz befreit werden konnten, kam jede Hilfe zu spät. Sie starben an den Folgen von Erschöpfung, Hunger oder Krankheit. Viele Überlebende blieben bis an ihr Lebensende gebrochene Menschen, sie fühlten sich in den aufstrebenden Nachkriegsgesellschaften fremd. Der Schriftsteller Primo Levi hat Auschwitz überlebt und seine Geschichte immer wieder in eindrücklichen Essays und Berichten zu verarbeiten gesucht. Zum Tag der Befreiung schrieb er: "Die Nachricht rief in mir keine unmittelbare Bewegung hervor. Seit vielen Monaten kannte ich keinen Schmerz, keine Freude und keine Angst mehr, es sei denn jener unbeteiligten, entfernten Art, die für das Lager charakteristisch ist und die man als konditional bezeichnen könnte. 'Hätte ich jetzt', so dachte ich, 'mein Empfindungsvermögen von früher, dann wäre dies ein äußerst erregender Augenblick."

Umgang mit der eigenen Geschichte

Bei ihrem Vormarsch auf Berlin stießen West-Alliierte und sowjetische Truppen immer wieder auf Konzentrationslager. Mit den Soldaten kamen die Fotografen. Sie machten jene Bilder und Filme, durch die die Existenz und das Grauen der Lager weltweit bekannt wurden. Diese Dokumente des Schreckens bekamen auch die Deutschen zu sehen. Zwar waren viele von ihnen persönlich betroffen von dem Grauen der Lager - die öffentliche Aufarbeitung der Verbrechen allerdings blieb zunächst aus. Denn viele Angehörige der Funktionseliten, die dem NS-Regime treu gedient hatten, waren nach dem Krieg ohne größere Schwierigkeiten wieder zu Amt und Würden gekommen - die Justiz verfolgte Kriegsverbrechen nur zögerlich. Folglich bescheinigt der Historiker Norbert Frei der jungen Bundesrepublik in den 50er Jahren eine "Phase der Milde" gegenüber den Tätern, in der der Nationalsozialismus "wie ein über Deutschland hereingebrochenes Fremdregime mit einer im Grunde geringen Zahl von 'Kollaborateuren' und einem Heer harmloser Mitläufer erschienen war".

Diese "bleierne Zeit" endete mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess. Ab 1963 wurde hier das Ausmaß der Verbrechen zum ersten Mal systematisch untersucht. Zeugen und Sachverständige führten der Öffentlichkeit die furchtbaren Details des Holocaust vor Augen, begleitet von großem nationalen und internationalen Medieninteresse. Zwar blieben die 22 Angeklagten bis zum Ende uneinsichtig und kamen mit vergleichsweise milden Strafen davon; dank der minutiösen Rekonstruktion dieser von Menschen errichteten Hölle auf Erden allerdings wurde in Deutschland die Mauer des Schweigens durchbrochen: Die Verantwortung für die Verbrechen ließ sich nicht länger hinter der Fassade einer jungen, aufstrebenden und scheinbar geläuterten Demokratie verbergen. Auschwitz steht seither wie kein anderes Lager für die Verbrechen der Deutschen und wurde als "Todesfabrik" Symbol für den Mord an den europäischen Juden. Es mahnt als Chiffre für den "Zivilisationsbruch", dass die Entfesslung totaler Gewalt in jeder zivilisierten und aufgeklärten Gesellschaft möglich ist: Der Holocaust ist Teil der Moderne selbst. Und Auschwitz ist heute der zentrale Ort für die Trauer um die Opfer - sei es für staatliches Gedenken oder zum stillen Erinnern.

Die Prozesse in Frankfurt setzten in Deutschland eine Entwicklung in Gang, die bis heute nicht völlig abgeschlossen ist. Zunächst forderten die 68er offensiv die öffentliche und private Auseinandersetzung mit den Verbrechen ein - zogen sich aber zugleich in revolutionäre, universale Erklärungsmodelle zurück. Auf staatlicher Ebene vollzog sich weniger später, was Historiker die "Inkorporierung der Erinnerung" in das nationale Selbstverständnis nennen: Die Pflicht zur Erinnerung wurde alsbald Staatsräson - und damit zum politischen Akt. Die "Lehren aus Auschwitz" wurden seither oft als Argumentationshilfe bemüht, wenn es um Deutschlands Rolle in der Welt, um das nationale Selbstverständnis oder um die Frage von Krieg oder Frieden ging. Zuletzt begründeten die damaligen Minister Joschka Fischer und Rudolf Scharping am Vorabend des Krieges gegen Jugoslawien mit dem Diktum "Nie wieder Auschwitz" Deutschlands Beteiligung am Militärschlag gegen das Milosevic-Regime. Und noch einmal sechs Jahre später stritt die Republik heftigst über ein zentrales Mahnmal in Berlin, von dem Kritiker meinen, das wiedervereinigte Deutschland setze sich am "Ort der Täter" eher selbst ein Denkmal, als dass in angemessener Form der Opfer gedacht werde.

Kein gerader Weg nach Auschwitz

Abseits solch politischer Debatten über den Umgang mit dem Holocaust bleibt die symbolische Kraft von Auschwitz bis heute ungebrochen. Und so erklärte der Bundestag den 27. Januar - den Tag der Befreiung des Lagers - zum nationalen Gedenktag. International wurde dies als bedeutsame politische Geste begriffen, blieb aber auch nicht unwidersprochen: Der Holocaust lasse sich nicht auf ein Datum reduzieren, man werde der Dimension der Verbrechen so nicht gerecht, meinten Kritiker. Tatsache ist: Die Verbrechen begannen weder in Auschwitz - noch endeten sie dort. In dem systematischen, geplanten und industriellem Morden in Auschwitz-Birkenau, Treblinka, Sobibor, Chelmno und Majdanek zeigte sich wohl das gesamte verbrecherische Potenzial Nazi-Deutschlands. Dieses aber muss historisiert werden, wenn man es begreifen will. Der Holocaust hat eine Geschichte.

Ein biologistisches Weltverständnis, die Besessenheit von "rassischer Reinheit", der Expansionswillen Deutschlands, die technischen Möglichkeiten zum Massenmord und nicht zuletzt ein in der Gesellschaft weit verbreiteter und fest verankerter Antisemitismus - auch wenn dieser am Anfang nicht den Mord an allen Juden zum Ziel gehabt haben mag - waren einige Voraussetzungen für den Holocaust. Von großer Bedeutung war ebenfalls eine den Völkermord organisierende und ausführende Bürokratie, die, folgt man dem Soziologen Zygmunt Bauman, dank einer vielschichtigen Arbeitsteilung die moralische Distanz zu ihrem Tun wahren konnte. Und schließlich spielte der Krieg selbst eine wichtige Rolle. Nach Einschätzung des Historikers Götz Aly beförderte er "eine Atmosphäre des Nicht-Öffentlichen, er atomisierte die Menschen, zerstörte ihre noch vorhandenen Bindungen an religiöse und juridische Traditionen". Es entstand eine Situation, die in der Sprache der Täter eine "einmalige Gelegenheit" genannt wurde.

Dem massenhaften Mord allerdings ging eine stetig fortschreitende Entrechtung jüdischer Menschen, aber auch anderer Gruppen, voraus: Die systematische Verbannung der Juden aus dem öffentlichen Leben durch zahlreiche Gesetze, die Reichspogromnacht, die Stigmatisierung durch den öffentlich zu tragenden "Judenstern", der Euthanasie-Mord an tausenden behinderten Menschen und die Errichtung der großen Ghettos markieren einige dieser Stationen. Gleichwohl wäre es verfehlt, von einem "geraden Weg nach Auschwitz" zu sprechen. Bis in die 90er Jahre hinein waren sich die Historiker nicht einig, ob der Mord an den Juden das Resultat rationaler Planung der NS-Führung oder einer "kumulativen Radikalisierung" sei. Heute neigt man zum entschiedenen Sowohl-als-auch. Ein sich "radikalisierender Prozess der Brutalisierung" war direkt verbunden mit "vielfältigen Formen individueller und ideologischer Ziele", resümiert etwa der Historiker Ulrich Herbert.

"Ganz normale Männer"

Und ebenso wenig wie der Holocaust in Auschwitz begann, endete er mit der Befreiung des Lagers. Bis zum Ende des Krieges ging das Morden weiter. Noch im April etwa wurden mindestens 7000 Häftlinge im KZ Buchenwald ermordet. Und selbst für die letzten Kriegstage sind Gewaltexzesse an Juden dokumentiert. Zwar war Auschwitz das größte deutsche Konzentrationslager, jedoch längst nicht das einzige: Deutschland und die annektierten Gebiete waren vielmehr von einem dichten Lager-Netz überzogen. Die geheimen "Todesfabriken", in denen Häftlinge im Akkord in die Gaskammern getrieben wurden, standen zwar weit im Osten. Konzentrationslager aber gab es überall im Herzen Deutschlands: In Buchenwald bei Weimar, in Neuengamme nahe Hamburg, in Sachsenhausen unweit von Berlin und im nur wenige Kilometer von München entfernten Dachau. Hinzu kamen Flossenbürg, Mittelbau-Dora, Mauthausen, Ravensbrück, Bergen-Belsen und unzählige Außenlager. All diese Namen stehen heute - ebenso wie Auschwitz - für die Verbrechen der Nationalsozialisten. Auch hier wurden Menschen unter unmenschlichen Bedingungen zur Arbeit bis in den Tod gezwungen, erschossen, gehenkt. Sie verhungerten, erfroren oder starben an den Folgen medizinischer Versuche.

Die Zahl derjenigen, die den Mord von Angesicht zu Angesicht - in Wachmannschaften, Einsatzgruppen und Polizeibataillonen - verübten oder am Schreibtisch mitorganisierten, dürfte in die Hunderttausende gehen. Trotz ihrer hohen Zahl aber blieben die Täter für lange Zeit in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft merkwürdig gesichtslos. Sie wurden entweder als "Bestien in Menschengestalt" dämonisiert oder aber ihre Taten wurden auf einen - inzwischen vielfach widerlegten - Befehlsnotstand zurückgeführt. Erst relativ spät hat die Holocaust-Forschung die Täter in den Blick genommen und befasst sich seitdem in umfangreichen Studien mit verschiedenen Täter-Gruppen und den Milieus, aus denen sie stammten. Der Befund der Wissenschaftler offenbart eines der verstörendsten Erkenntnisse über den Holocaust: Oft waren die Täter keineswegs eiskalte Killer, sondern "ganz normale Männer" aus der Mitte der Gesellschaft, wie etwa der Historiker Christopher Browning schließt.

Lesen Sie hier den zweiten Teil: Dimensionen des Völkermords