Bundesweite Suchtwoche startet "Die Vorbilder sitzen zu Hause auf dem Sofa"
Bei der heute beginnenden bundesweiten Suchtwoche ist einer der Schwerpunkte "Jugendliche und Alkohol". Damit greife die Aufklärung zu kurz, meint Jugendforscher Klaus Farin im Interview mit tagesschau.de: "Alkoholismus ist ein Problem der Erwachsenen."
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die Drogenbeauftragte der Bundesregierung und die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen starten heute die Suchtwoche unter dem Motto "Alkohol - Verantwortung setzt Grenzen". Ein Schwerpunkt: Jugendliche und Alkohol. "Damit setzen die Organisatoren bei den Falschen an", meint der Jugendforscher Klaus Farin im Interview mit tagesschau.de. Denn Alkoholismus sei ein Problem der Erwachsenen.
tagesschau.de: Laut den Anonymen Alkoholikern steigt die Zahl der alkoholabhängigen Jugendlichen kontinuierlich; derzeit liegt sie ihnen zufolge bei den bis 25-Jährigen bei rund 100.000. Gleichzeitig sinkt das Einstiegsalter für regelmäßigen Alkoholkonsum. Ist die Jugend heutzutage schlimmer dran?
Klaus Farin: Die Abhängigenzahl ist natürlich immer dramatisch. Ich stehe Meldungen wie „Immer mehr, immer jünger, immer härter“ allerdings skeptisch gegenüber. Sicher ist die Aufklärung heute auch besser, die Zahlen sind verlässlicher.
Das Sinken des Einstiegsalters ist insofern nicht über die Maßen alarmierend, als natürlich alle biologischen Prozesse wie sexuelle Reife früher anfangen – es wäre komisch, wenn die Leute dann nicht auch früher anfangen würden zu trinken und zu rauchen. Eine 13-Jährige von heute ist überhaupt nicht zu vergleichen mit einer 13-Jährigen aus den 60er Jahren.
"Unsere Sensibilität ist gewachsen"
tagesschau.de: Kürzlich hat sich ein 16-jähriger Berliner Schüler auf einer so genannten Flatrate-Party zu Tode getrunken. Ist das eine neue Qualität?
Farin: Nein. Komasaufen ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Partys, wo man eine feste Summe gezahlt hat und soviel trinken durfte, wie man wollte – das gab es auch schon vor 30 Jahren. Heute heißt das Phänomen eben Flatrate.
Und auch dass Jugendliche sich schwer schädigen oder sogar umbringen, ist keine neue Erfindung. Nur wären diese Jugendlichen vor 30 Jahren nicht in die Medien gekommen. Ich glaube, positiv formuliert: unsere Sensibilität ist gewachsen. Negativ formuliert: unser Voyeurismus.
tagesschau.de: Wie sinnvoll ist das derzeit diskutierte Verbot von Flatrate-Partys?
Farin: Das bringt nichts. Harter Alkohol ist für Jugendliche unter 18 sowieso verboten. Es wirkt nur nicht. Außerdem würde ein Verbot die Sache noch spannender machen. Die ganze Welt redet drüber, es ist offenbar etwas Cooles, Heißes, das man mal mitgemacht haben muss. Jugendliche reagieren da anders als ältere Menschen: Verbotenes ist erst recht interessant.
Wir hatten dasselbe Phänomen mit Ecstasy in der ersten Hälfte der 90er Jahre. Der Anstieg des Konsums ging gleichzeitig einher mit einer exzessiven Berichterstattung. Als sie nachließ, war der Trend auch wieder vorbei.
"Es ist ein Problem der Erwachsenen"
tagesschau.de: Was könnte dann helfen?
Farin: Verbote sind generell schwierig. Jugendliche sind sehr fit, sich illegale Sachen zu besorgen. Effektiv ist hingegen, Alkohol und auch Zigaretten aus der Öffentlichkeit zu verbannen, die Werbung einzustellen, Alkohol nicht überall zugänglich zu machen. Das Wichtigste aber ist die Einsicht: Es ist letztendlich ein Problem der Erwachsenen. Wenn Jugendliche trinken, haben sie es nicht selbst erfunden. Ihre Vorbilder sitzen zu Hause auf dem Sofa.
tagesschau.de: Es ist also ein Problem der Eltern?
Farin: Bei denen muss man anfangen, definitiv. Gerade das Konsumverhalten von Drogen – egal, ob legal oder illegal – wird schon im Alter zwischen sechs und sieben Jahren geprägt. Kinder, die mitbekommen, dass Mama eine Tablette nimmt, wenn es ihr nicht gut geht und das Problem dadurch löst, übertragen diese Art des Umgangs mit Schwierigkeiten auch auf Alkohol.
Die Grundlage von allem ist ein Vertrauensverhältnis. Das wiederum entsteht, wenn Eltern glaubwürdig sind, indem sie dieselbe Messlatte an sich anlegen wie an ihr Kind. Viele Eltern haben eine Doppelmoral: Sie verbieten es ihren Kindern und rauchen und saufen selbst. Das ist das Verheerendste, was passieren kann. Es geht nicht darum, gar nichts zu trinken. Es gibt ja auch einen vernünftigen Umgang mit Alkohol. Wenn der Vater sich jeden Abend zum Essen ein Bier aufmacht, darf er sich aber nicht wundern, wenn der Sohn damit irgendwann auch anfängt.
Nur wenn ein Vertrauensverhältnis besteht, kann ich sehen, ob mein Kind zu viel trinkt. Ein entspannter, aber aufmerksamer Umgang ist angesagt.
Aufklärung lieber in den Alltag integrieren
tagesschau.de: Ist die Suchtwoche ein sinnvolles Instrument?
Farin: Solche Aktionen sind eher ein moralischer Fingerzeig, der die „Guten“, Vernünftigen erreicht. Vielmehr muss man Aufklärung in den Alltag integrieren. Schule kann eine Menge leisten, dort verbringen die Jugendlichen mindestens einen halben Tag. Was Jugendliche abschreckt, sind nicht Verbote: Drogenprävention muss eingebettet sein in eine gesundheitliche Aufklärung. Was Jugendliche vor allem von Drogen fernhält, ist die Angst um den eigenen Körper, die Angst vor Gesundheitsschäden und vor Schönheitsverlust. Das ist der beste Ansatzpunkt. Jugendliche von heute sind sehr körperbewusst.
Die Fragen stellte Nicole Diekmann, tagesschau.de