Gericht lehnt Loveparade-Prozess ab "Wir empfinden das als Justizskandal"
Das Landgericht Duisburg eröffnet keinen Strafprozess wegen des Loveparade-Unglücks. Angehörige sind entsetzt, ein Anwalt spricht von einer “Bankrotterklärung der Justiz”. Doch die Entscheidung ist nicht endgültig: Die Staatsanwaltschaft legte Beschwerde ein.
"Diese Tragödie lässt niemanden kalt", beginnt der Präsident des Duisburger Landgerichts, Ulf-Thomas Bender. Er will wohl einfühlsam erscheinen, vermutlich weiß er, wie viel Unverständnis die Entscheidung seines Gerichts in der Öffentlichkeit hervorruft. "Die Tragödie berührt uns alle. Auch mich persönlich. Und auch die mit der Sache befassten Richter."
Doch dann geht es schnell ums Juristische, denn darum, und nur darum, geht es in der Entscheidung. Das Gericht müsse prüfen, ob die angeklagten Personen "überwiegend wahrscheinlich" verurteilt werden könnten. Nur dann dürfe eine Hauptverhandlung durchgeführt werden. Bei den vier Mitarbeitern der Veranstalterfirma Lopavent und sechs Bediensteten der Stadt Duisburg sei das nicht der Fall. Warum?
"Gravierende inhaltliche und methodische Mängel"
Alles dreht sich um ein umstrittenes Gutachten. Die Staatsanwaltschaft hat damit den britischen Professor Keith Still beauftragt. "Sicherheit von Menschenmengen und Risikoanalyse", prangt auf seiner Webseite. Laut Staatsanwaltschaft ist er ein "international anerkannter renommierter Experte". Auf Englisch hat er ausführlich beschrieben, wie es zu dem Unglück kommen konnte und wo Fehler passierten. Doch das Landgericht erhebt schwere Vorwürfe sowohl gegen den Gutachter als Person als auch gegen seinen Text. Das Gutachten sei "nicht verwertbar", schlussfolgert das Gericht, und leide an "gravierenden inhaltlichen und methodischen Mängeln".
Die Vorwürfe lesen sich wie eine schallende Ohrfeige für die Arbeit des Wissenschaftlers. Drei Beispiele: Keith Still habe Besucherzahlen des Veranstalters als "manipuliert" bezeichnet, aber trotzdem mit ihnen gearbeitet. Die Zahl der Teilnehmer an der Loveparade soll er geschätzt haben, indem er sich angeschaut habe, wie viele Leute mit Bus und Bahn hätten anreisen können. Das findet das Gericht zu ungenau. Für das Gericht bleibe somit unklar, wie viele Besucher wirklich bei der Loveparade waren. Und: Mit in Deutschland geltenden Normen und Regeln soll er sich nicht beschäftigt haben, außerdem unzulässig Aufgaben an zwei Mitarbeiterinnen delegiert haben.
Schon vergangenes Jahr war das Gericht unzufrieden. 75 Nachfragen schickte es dem Gutachter, die aber "weder zu einer abschließenden Klärung der offenen Fragen noch zu einer Behebung der grundlegenden Mängel führten". Schwere Vorwürfe. Hat der Gutachter wirklich so dilettantisch gearbeitet, wie es das Gericht beschreibt? Die Staatsanwaltschaft, die das Gutachten in Auftrag gegeben hat, reagierte prompt: "Professor Still ist ein international anerkannter renommierter Experte, an dessen Sachkunde und Unabhängigkeit keine Zweifel bestehen", sagte Staatsanwältin Anna Christiana Weiler. Neben methodischen Fehlern hatte das Landgericht Still nämlich auch eine mögliche Befangenheit unterstellt. Die Staatsanwaltschaft habe außerdem eine "Vielzahl an Beweismitteln" präsentiert, das Gericht hätte "einen zweiten Gutachter" beauftragen müssen.
Entsetzen bei Angehörigen und Helfern
Auch Angehörige von Loveparade-Opfern sind entsetzt über die Entscheidung des Landgerichts. Rechtsanwalt Julius Reiter vertritt rund 100 Betroffene. "Nicht einmal zu versuchen, das Verfahren durchzuführen, sondern einfach aufzugeben, das ist wie eine Bankrotterklärung der Justiz. Wir empfinden das als Justizskandal." Die Betroffenen, das sind Hunderte, wenn nicht gar Tausende: Angehörige jener 21 Menschen, die bei dem Unglück ums Leben kamen, hinzu kommen die mehr als 500 Verletzten und wiederum deren Angehörige. Und die zahlreichen Helfer, die an dem Sommertag 2010 an einem Ort des Chaos eintrafen und dann entsetzliche Szenen erlebten, während sie Menschen zu retten versuchten.
Einer von ihnen ist Gregor Hecker. Der Rettungsassistent hatte damals versucht, Menschen wiederzubeleben. Seitdem ist er traumatisiert. "Es kommen immer wieder bestimmte Bilder hoch. Und wenn das Gericht jetzt sagt, wir machen darüber keinen Prozess, ist das absolut unverständlich", sagt er. Ein Gefühl vieler Angehöriger heute.
Auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft weiß das. Sie trat am Mittag vor die Presse. Auch sie sensibel, denn Kraft weiß, welche Bedeutung eine Aufarbeitung der Loveparade-Tragödie für die Menschen in ihrem Bundesland hat. Zwar wahre sie die Unabhängigkeit der Justiz, betont Kraft, aber: "Die Angehörigen, die Familien, die Freunde, die Betroffenen vor Ort, die viel Leid erlitten haben, sie alle haben darauf gesetzt, dass die Frage wirklich lückenlos aufgeklärt wird. Doch nach dem Beschluss heute scheint das in weite Ferne zu rücken."
Zumindest werden die Angehörigen fünfeinhalb Jahre nach der Katastrophe noch einmal länger warten müssen. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft bringt das Verfahren vor das Oberlandesgericht Düsseldorf. Es kann mehrere Monate dauern, bis es die Entscheidung des Duisburger Landgerichts überprüft hat. Und dann stehen die Angehörigen und Opfer der Loveparade-Tragödie wieder vor der schmerzlichen Frage: Wird jemals eine Person wegen der Loveparade-Tragödie zur Rechenschaft gezogen?