Interview

Autorin Kathrin Schmidt über Leben nach dem Koma Nach langem Schlaf zurück im Leben

Stand: 06.02.2014 11:17 Uhr

Nach seinem schweren Skiunfall versuchen die Ärzte, Michael Schumacher aus dem künstlichen Koma zu holen. Die Autorin Kathrin Schmidt schaffte den Weg zurück ins Leben. Im Interview blickt sie auf die Zeit nach ihrem Koma zurück. Heute staunt sie über ihre Entwicklung.

tagesschau.de: Sie sind 2002 ins künstliche Koma versetzt worden, nachdem in Ihrem Gehirn ein Blutgefäß geplatzt war - dieser Schlag hatte Sie fast beiläufig ereilt.

Kathrin Schmidt: Ich befand mich auf dem Balkon und rauchte, und plötzlich hatte ich das Gefühl, als hätte mich jemand am Kopf mit einem Schnipp-Gummi getroffen. Ich merkte sofort, dass etwas Existenzielles geschehen war. Ich bin zu meinem Mann in die untere Etage gelaufen, habe mich dort auf einen Sessel fallen lassen und gesagt: 'Ich sterbe', worauf er antwortete 'Du stirbst nicht'. Ich verlor dann das Bewusstsein und kam im Krankenhaus noch einmal kurz zu mir, bevor ich ins künstliche Koma versetzt wurde.

tagesschau.de: Im Krankenhaus waren Sie noch ansprechbar, bevor Sie in das künstliche Koma versetzen wurden?

Schmidt: Eine Ärztin sagte mir, dass eine Blutung in meinem Gehirn aufgetreten sei und dass ich jetzt erst einmal sehr lange schlafen würde. Auch wenn ich wusste, dass eine Gehirnblutung etwas Schlimmes bedeutete, war mir die Dimension dieses Ereignisses nicht klar. Ich war schon so weit weg, dass ich froh war, schlafen zu können.

Zur Person
Die Schriftstellerin Kathrin Schmidt lebt in Berlin. Die 55-Jährige hat vier Romane, sechs Lyrik-Bände und drei Bücher mit Erzählungen veröffentlicht. 2002 wurde sie wegen einer geplatzten Arterie im Gehirn ins künstliche Koma versetzt. Die Erfahrungen aus dieser Zeit verarbeitete sie in dem Roman "Du stirbst nicht", für den sie 2009 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschien 2011 von ihr "Finito. Schwamm drüber."

tagesschau.de: Sie haben dann etwa zwei Wochen im künstlichen Koma gelegen. Haben Sie in dieser Zeit etwas wahrgenommen, sind Geräusche, Gespräche oder Berührungen zu Ihnen durchgedrungen?

Schmidt: Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich bin in dieser Zeit zwei Mal operiert worden und bilde mir ein, mich an die zweite Operation zu erinnern. Überhaupt gingen damals Träume und Realität sehr ineinander über. Ereignisse, von denen ich heute meine, dass ich sie nur geträumt haben kann, sind mir so erinnerlich, als hätten sie tatsächlich stattgefunden. Das betraf aber vor allem die Aufwachphase.

tagesschau.de: In welchem körperlichen Zustand waren Sie, als Sie  nach zwei Wochen aus dem Koma zurückgeholt wurden?

Schmidt: Ich war halbseitig gelähmt und konnte nicht mehr sprechen.

tagesschau.de: Kam die Erkenntnis, massiv eingeschränkt zu sein, gleich oder setzte sie sich erst nach und nach durch?

Schmidt: Das hat sich erst nach und nach durchgesetzt. Man erhält ja starke Medikamente wie Anti-Depressiva, die viele Dinge gar nicht bewusst werden lassen. Deshalb habe ich meine Situation als eher komfortabel wahrgenommen. Allerdings hatte ich zeitweilig gewisse Ängste, empfand auch das Krankenhauspersonal als gegen mich verschworen. Wie eingeschränkt ich war, habe ich erst gemerkt, als man mich auf den Wechsel von der Stroke-Unit im Krankenhaus zur Reha vorbereitete. Da merkte ich erst, dass ich nicht mehr laufen konnte, dass ich meine rechte Hand nicht mehr bewegen konnte.

tagesschau.de: Wohin hat Sie diese Erkenntnis geführt? Als Außenstehender würde man vermuten, dass verzweifelte Angst von einem Besitz ergreift, das Gefühl der Hoffnungslosigkeit?

Schmidt: Da ich meine Situation anfangs nicht als bedrohlich eingeschätzt habe, konnte ich meine Lage annehmen und darüber nachdenken, was ich mit ihr nun anstelle - selbst als mir klar wurde, dass ich nicht mehr sprechen konnte.

tagesschau.de: Gerade der Verlust der Sprache muss doch für eine Schriftstellerin ein existenzieller Schock sein.

Schmidt: Es war zunächst so, als ob die Worte wie in einer Schublade vor mir lagen, die ich selbst nicht öffnen konnte. Wenn aber jemand anderes diese Schublade aufzog und die Wörter heraus konnten, waren sie wieder präsent. Am Anfang bleiben die Wörter nicht lange, aber ich wusste: Wenn jemand sie sagt, kommen sie wieder. Das hat bei mir großen Optimismus ausgelöst. Ich habe mich dann gezielt neben Menschen gesetzt, die miteinander sprachen und habe ihnen zugehört. Auf diese Weise kam es dann irgendwann zurück.

Die Angst vor langen Sätzen

tagesschau.de: Wie lange hat es gedauert, bis Sie wieder eine flüssige Unterhaltung führen konnten?

Schmidt: Gewisse motorische Einschränkungen spüre ich noch heute. Bestimmte Silben muss ich ganz bewusst deutlich aussprechen, weil sie nicht von selbst kommen. Das merkt ein Außenstehender aber wohl kaum. Ich habe allerdings nach wie vor Angst, dass ich längere Satzbögen nicht zu Ende führen kann, weil ich mittendrin vergessen habe, was ich sagen wollte. Dann fällt es mir aber doch wieder ein.

tagesschau.de: Waren sie ähnlich zuversichtlich, eines Tages wieder schreiben zu können?

Schmidt: Mein Mann brachte mir damals einen Laptop in das Krankenhaus und ich merkte, dass ich mit der linken Hand schreiben konnte. Das Schreiben dauerte zwar auch lange, aber  ich wusste immer, was ich sagen wollte, und schreibend ging das. Ich musste also nicht mehr befürchten, dass ich mich nicht mehr mitteilen konnte. Dass ich aber wieder als Schriftstellerin tätig sein könnte, habe ich nicht geglaubt. Als ich aus der Reha kam, wollte ich mich bei meinem Verleger als Autorin verabschieden. Ich konnte es aber nicht herausbringen. Bei unserer Verabschiedung sagte er, 'Das nächste Buch machen wir auch zusammen'. Da ist bei mir ein Hebel umgefallen. Ein paar Monate später habe ich angefangen, einen neuen Roman zu schreiben.

tagesschau.de: Welche Rolle haben bei Ihrer Genesung Ihre Familie und ihr Umfeld gespielt?

Schmidt: Ich bin vielen Menschen zu Dank verpflichtet, weil ich das alleine gar nicht überblicken konnte. Mein Mann hat mich immer darin bestärkt, dass mit mir alles in Ordnung ist und dass dieser Zustand vorbei geht. Alleine hätte ich das nicht geschafft.

tagesschau.de: Das unterstreicht einmal mehr, wie hilfreich ein intaktes Umfeld in einer solchen Lage ist.

Schmidt: Ein Jahr nach dem Platzen des Aneurysmas hatte ich meinen einzigen epileptischen Anfall - zu einem Zeitpunkt, als ich fest glaubte, dass sich alles wieder einrenken würde. Ich konnte wieder sprechen und hatte wieder angefangen, zu schreiben. Dieser Anfall hat mich zum ersten Mal in eine Depression gestürzt. Ich bekam dann starke Medikamente, die mich in einen Zustand versetzten, in dem ich nicht mehr ich selbst war. Das war eine schlimme Zeit. Mein Mann hat mich aber darin unterstützt, mich nicht als Epileptikerin zu sehen und - gegen den Rat der Mediziner - auf die Medikamente zu verzichten. Ich habe nie wieder einen Anfall gehabt.

Auf die innere Stimme hören

tagesschau.de: Dazu gehört aber auch eine gehörige Portion Vertrauen und innerer Zuversicht.

Schmidt: Man muss in solchen Situationen auch auf seine innere Stimme hören und auf seine Stärke bauen. Ich habe mich relativ schnell aus der Reha entlassen, als ich die ersten eigenen Schritte machen konnte und den Rollstuhl nicht mehr durchgängig brauchte. Im Abschlussgespräch sagte man mir, ich müsse mich damit abfinden, dass ich meinen rechten Arm nie wieder bewegen kann. Ich kann heute alles mit dem rechten Arm machen. Nur Schreiben und Klavierspielen geht nicht. Auch meine Beweglichkeit ist zurückgekommen. Ein leichtes Hinken ist geblieben, aber das merkt man kaum.

tagesschau.de: Wie lange hat es gedauert, bis Sie Ihre Autonomie zurückerobert hatten?

Schmidt: Ich bin aus der Reha gekommen und habe versucht, alles selbst zu machen. Ich erinnere mich noch heute, wie ich mein erstes Fleischgericht zubereitete und mit der linken Hand das Fleisch schnitt. An der rechten Hand ist die Feinmotorik gänzlich weg, ich schreibe bis auf seltene Ausnahmen nur noch mit links. Ich musste auch einige Zeit mit einer Schiene am Bein laufen, sodass ich vielleicht drei Jahre eingeschränkt war. Und doch hatte ich nicht das Gefühl, dass mir die Autonomie abhanden gekommen war, weil ich immer versucht habe, alles selbst zu machen.

tagesschau.de: Hat das Neu-Erlernen-Müssen der Sprache ihr Verhältnis zu ihr, vielleicht auch Ihr Schreiben verändert?

Schmidt: Ich habe schon ein Jahr nach dem Ereignis einen Roman begonnen, der 2005 veröffentlicht wurde. Idee und Ausarbeiten - alles geschah nach dem Aneurysma. Aber der Schreibprozess war mühselig. Ich hatte nur kurze Aufmerksamkeitsspannen und schlief sechs Mal am Tag ein. Dass ich diesen Roman überhaupt beendet habe, war so beglückend, dass es alle nachteiligen Empfindungen aufwog. Ich weiß: Das ist mein schlechtester Roman. Aber ich stehe dazu, weil ich weiß, unter welchen Bedingungen er entstanden ist. Ich konnte auch lange Jahre danach keine Gedichte verfassen, aber als ich dann endlich 2010 einen Gedichtband herausbringen konnte, dachte ich: Jetzt hast Du es doch geschafft. So lange hat es gedauert.

tagesschau.de: Hat Sie selbst diese Erfahrung verändert?

Schmidt: Ich habe heute ein sehr entspanntes Verhältnis zum Tod. Er erschreckt mich nicht mehr. Das ist wohltuend, weil es mich mancher Überlegung, was man sich trauen soll oder nicht, enthebt. Ich kann auch vor Gruppen freier sprechen, weil ich nicht mehr überlege, was andere möglicherweise dazu sagen könnten. Auch Ärzte bescheinigen mir, dass sie selten erlebt haben, dass jemand mit meinem Krankheitsbild wieder so frei sprechen kann. Das erlebe ich als große Befreiung. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass ich schon vorher in der Sprache so zu Hause war. Vor dem Aneurysma hatte ich regelmäßig depressive Phasen. Das ist auch vorbei. Ich staune darüber, wie viele positive Dinge dieses Ereignis bei mir ausgelöst hat.

tagesschau.de: Wenn ein Fall wie der des Michael Schumacher so öffentlich begleitet wird - führt Sie das wieder zurück in die Zeit  Ihres Wieder-Erwachens?

Schmidt: Nein, dieses Ereignis ist für mich abgeschlossen. Wenn ich die Bilder im Fernsehen sehe, denke ich, dass er froh sein kann, dass er von all dem nichts mitbekommt. Es ist gut, dass ihn Familie und Management in der Klinik von dem Medien-Hype abschirmen.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de