Virologe zu Beherbergungsverbot "Wir brauchen keine neuen Corona-Regeln"
Nicht zielgerichtet und realitätsfremd: Virologe Schmidt-Chanasit kritisiert das Beherbergungsverbot massiv. Statt solche Regeln neu einzuführen, sollten die bestehenden konsequent durchgesetzt werden, sagt er im tagesschau.de-Interview.
tagesschau.de: Die Kritik an dem Beherbergungsverbot ist massiv. Was sagen Sie als Mediziner zu der Maßnahme?
Schmidt-Chanasit: Das Beherbergungsverbot ist kein geeignetes Mittel, weil die Corona-Lage viel zu dynamisch ist. Damit ist dieses Mittel nicht zielgerichtet, nicht effektiv und letztendlich realitätsfremd. Denn es kann gar nicht realistisch umgesetzt werden. Erschwerend hinzu kommt: Es werden dadurch Ressourcen vergeudet. Denn innerdeutsche Reisende sind nicht der Hauptgrund für den Anstieg der Inzidenz.
Jonas Schmidt-Chanasit, Jahrgang 1979, studierte Medizin an der Berliner Charité und leitet am Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin die Abteilung für Arbovirologie. Seit 2018 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Arbovirologie an der Universität Hamburg.
tagesschau.de: Sondern?
Schmidt-Chanasit: Sinnvoller als Beherbergungsverbote sind zum Beispiel die Begrenzung bei privaten Feiern und im öffentlichen Raum. Es braucht also keine neuen Maßnahmen. Vielmehr geht es darum, die bestehenden Maßnahmen, die zielgerichtet und verhältnismäßig sind, umzusetzen - und auch durchzusetzen. So ist in Hamburg der Bezirksamtsleiter am Wochenende durch die Restaurants und Bars gegangen und hat geprüft, ob die Kontaktlisten stimmen und sich alle an die Regeln halten. Wo das nicht der Fall war, wurde zugemacht. Das ist verhältnismäßig und zielgerichtet. Und für jeden nachvollziehbar.
tagesschau.de: Es braucht also nicht neue Regeln, sondern die bestehenden müssen konsequent angewendet werden?
Schmidt-Chanasit: Richtig. Und es gibt ja auch Bestrebungen in diese Richtung: So hilft die Bundeswehr bei der Kontaktnachverfolgung in den Gesundheitsämtern. Auch private Sicherheitsdienste leisten Hilfe, um die bestehenden Regeln umzusetzen. Wir brauchen keine neuen Regeln, wie das Beherbergungsverbot, die nur mehr Probleme schaffen als sie lösen.
Polizisten kontrollieren in einer Kiez-Kneipe am Hans-Albers-Platz die Einhaltung der Corona-Vorgaben in der Gastronomie.
Ein indirektes Reiseverbot
tagesschau.de: Stichwort: Ressourcenverschwendung. Mehr als zehn Millionen Menschen leben derzeit in innerdeutschen Risikogebieten. Wenn auch nur ein Prozent von ihnen in den Urlaub will, braucht es eine sechsstellige Zahl von Tests. Wie soll das gehen?
Schmidt-Chanasit: Die Frage stelle ich mir auch. Sollen die in die Testzentren kommen, in die Arztpraxen? Da haben wir ganz andere Probleme. Wir müssen uns doch um die Risikogruppen kümmern, um die Kranken. Das ist alles wenig durchdacht. Zumal die Testpflicht einem indirekten Reiseverbot gleichkommt: Welche vierköpfige Familie kann sich 600 Euro für Corona-Tests leisten, um zwei Wochen an die Ostsee zu fahren?
Veranstaltungen als Pilotprojekte zulassen
tagesschau.de: Was sind zielgerichtete und begründbare Maßnahmen?
Schmidt-Chanasit: Die AHA-Regel plus L. Also: Abstand, Hygiene, Alltagsmaske und Lüften. Das ist die Basis für unseren Erfolg. Das wurde jetzt zuletzt ein wenig vernachlässigt. Deswegen sind auch Bußgelder sinnvoll. Ich bin dafür, diese wenigen Regeln, die man hat, auch durchzusetzen. Aber zugleich auch Angebote zu machen.
tagesschau.de: Was meinen Sie?
Schmídt-Chanasit: Zum Beispiel Veranstaltungen zuzulassen - als Pilotprojekte. Mit entsprechenden Hygienekonzepten und Testungen. Quasi als Ventil und Zeichen, dass man die Bedürfnisse junger Menschen ernst nimmt. Solche Pilotprojekte eröffnen dann auch eine Perspektive, weil man mit diesen ganz pauschalen Verboten natürlich nicht über einen längeren Zeitraum kommt. Man muss jungen Menschen auch Angebote machen, sonst geht das in die Illegalität.
Das Wetter ist nicht entscheidend
tagesschau.de: Hamburg steht ja im Vergleich zu anderen Großstädten noch ganz gut da. Zufall? Oder macht Hamburg irgendetwas besser?
Schmidt-Chanasit: Ich kenne sowohl Hamburg als auch Berlin ganz gut. Und ich kann sagen, dass Hamburg die bestehenden Regeln, wie etwa das Alkoholverbot am Wochenende sehr konsequent umsetzt. Das wurde nach meiner Beobachtung so in Neukölln, Kreuzberg oder Friedrichshain nicht gemacht. Das könnte ein Grund für den "Hamburger Erfolg" sein.
tagesschau.de: Es heißt in diesen Tagen oft: Die Pandemie wird in den Großstädten entschieden. Wie gehen wir in den Herbst und Winter?
Schmidt-Chanasit: Ob wir das schaffen, hängt auch davon ab, wie gut die bestehenden Regeln umgesetzt werden. Prognosen sind sehr schwer. Das hängt gar nicht so sehr vom Wetter ab, sondern vielmehr von unserem Verhalten. Also von kulturellen, gesellschaftlichen Faktoren. So wie wir feiern, so wie wir leben - das ist das Entscheidende. Keine Frage: Das werden schwierige Monate.
Das Gespräch führte Wenke Börnsen, tagesschau.de