Ex-Bundesanwalt Bruns Der "Schwulen-Paragraf" musste weg
Die Abschaffung des sogenannten "Schwulen-Paragrafen" 175 StGB war überfällig, sagt der ehemalige Bundesanwalt Manfred Bruns im tagesschau.de-Interview. Er hatte sich in den 1980ern als homosexuell geoutet.
tagesschau.de: Sie sind in einer katholischen Familie groß geworden. Wie sehr hat Sie Ihr Elternhaus als Kind und Jugendlicher geprägt?
Manfred Bruns: Ich war sehr von meiner Mutter beeinflusst. Ich habe sie sehr verehrt, sie hat mich geprägt. Heute würde man sagen, sie war eine fundamentalistische Katholikin. Für mich war schon das pubertäre Masturbieren ein Riesenproblem, weil ich immer das Gefühl hatte, das ist eine Todsünde, die einen von Gott trennt. Dann kam hinzu, dass es keine Sexualaufklärung gab. Man konnte Homosexualität nicht benennen. Es wurde einfach immer gesagt, das sind Männer, die machen aus Überdruss irgendwelche abartigen Sachen und wurden als abartige Kriminelle hingestellt. Das war für mich ein Lebensweg, der nicht denkbar war. Ich habe es einfach nicht zugelassen und habe alle Anzeichen, dass ich homosexuell sein könnte, unterdrückt.
tagesschau.de: Sie haben sogar geheiratet und mit ihrer Frau drei Kinder bekommen. Warum?
Bruns: Als Jugendlicher in den fünfziger Jahren konnte man nicht einfach Sexualität mit Klassenkameradinnen haben. Ich hatte keine Erfahrung und dachte: "Du hast ja noch nie eine Frau gehabt, wenn du dann mal heiratest, wird sich das geben." Das hat es leider nicht. Wobei ich dazusagen muss: Wir haben eine sehr gute Ehe geführt. Ich habe bis Anfang der 1980er Jahre auch nie etwas zugelassen und immer strikt zu meiner Familie gehalten. Ich hatte auch Angst, dass ich meine bürgerliche Existenz verliere, meine Frau verliere und die Kinder.
tagesschau.de: Wie kam es dann zu Ihrem Outing?
Bruns: Wenn Sie einen wesentlichen Teil Ihres Daseins unterdrücken und nicht zulassen, irgendwann meldet sich das mit aller Gewalt, sodass Sie es nicht mehr in den Griff bekommen. So ging es auch mir. So habe ich Anfang der achtziger Jahre angefangen, das zuzulassen. Ich habe mich als Erstes mit meiner Frau auseinander gesetzt. Diese ersten homosexuellen Erlebnisse, die ich dann hatte, die waren so was von richtig, dass ich wusste: Das geht nicht mehr anders.
tagesschau.de: Warum haben Sie dann entschieden, es auch Ihrem Vorgesetzten zu sagen, dem damaligen Generalbundesanwalt Rebmann?
Bruns: Als ich das erste Mal etwas zugelassen habe, da dachte ich jedes Mal, wenn das Telefon an meinem Schreibtisch im Dienst klingelte: "Das ist der Chef, der hat's gehört." Es war absurd, und so haben viele Menschen gelebt. Das war etwas, was ich nicht mehr wollte.
Manfred Bruns 1986 in München
tagesschau.de: Wie hat Ihr Chef auf Ihr Outing reagiert? Hatte er Verständnis?
Bruns: Herr Rebmann war ein ausgesprochen guter Jurist, aber sehr, sehr konservativ. Er konnte das überhaupt nicht verstehen. Da war 1983 diese Kießling-Affäre. Dem Bundeswehrgeneral wurde vorgeworfen, dass er homosexuell sei. Der damalige Verteidigungsminister Wörner hat dann im Fernsehen immer verkündet, das Schlimme wäre nicht, dass Kießling homosexuell sei, sondern dass er es abstreiten würde. Dadurch würde er erpressbar. Dann bin ich zu Rebmann gegangen und habe ihm gesagt : "Ich bin auch homosexuell, aber ich bin nicht erpressbar. Wenn jemand kommt und sagt, dass er es meiner Frau sagt, sage ich: "Gehen Sie mal hin, die kann Ihnen noch ein paar Einzelheiten erzählen."
tagesschau.de: 1985 wurden Sie dann in der BILD-Zeitung geoutet, nachdem Sie in Talkshows liberale Ansichten vertreten hatten. Hat die Redaktion vorher mit Ihnen darüber gesprochen?
Bruns: Die haben dauernd bei mir angerufen und sagten, dass sie es doch wüssten. Und dann habe ich irgendwann gesagt: "Jetzt langt es mir und ja, ich bin schwul."
tagesschau.de: Wie haben Ihre Kollegen reagiert?
Bruns: Es gab Kollegen, die sich geweigert haben, sich mit mir in der Kantine an einen Tisch zu setzen oder mich zu grüßen. Dann bin ich eben nicht mehr in die Kantine gegangen. Wenn mir die Kollegen entgegenkamen, dann habe ich sie offen angelacht. Denen war das dann peinlich, die guckten vor sich und wollten nicht grüßen, ihr bürgerliches Gewissen peinigte sie dann.
tagesschau.de: Erst 1994 fiel der §175 komplett. Was glauben Sie, warum hat er sich so lange gehalten? Die Hauptstrafvorschrift war ja schon in den 1960er-Jahren gefallen, sowohl in der BRD als auch in der DDR.
Bruns: Der §175 galt bis in die 90er Jahre als angebliche Jugendvorschrift weiter. Man war der Auffassung, wenn Jugendliche während der Pubertät homosexuelle Erlebnisse haben, dann kann sie das zu Homosexuellen machen. Das war die sogenannte Verführungstheorie. Es gab eine Dammbruchphobie: Wenn irgendwo über Erleichterungen für homosexuelle Menschen diskutiert wurde, dann kam gleich die Furcht auf, dass sich das dann wie ein Flächenbrand ausbreiten würde, was völliger Unsinn ist. Über Jahrhunderte - selbst bei schlimmster Verfolgung - die Zahl der Homosexuellen war immer gleich.
tagesschau.de: Sie engagieren sich seit vielen Jahren für die Rechte von Schwulen und Lesben.
Bruns: Als es zu dem Coming Out kam, hatte ich das Gefühl, dass sich solche unsinnigen Lebensläufe wie meiner nicht wiederholen sollten. Ich bin ganz bewusst auch zu Schwulengruppen gegangen. Wir hatten auch schon sehr früh über HIV diskutiert. Über die Jahre hat sich viel verändert, und das ist das Schöne. Wenn Eltern erfahren, dass ihr Kind lesbisch oder schwul ist, hatten sie früher wahnsinnige Angst, was für einen schrecklichen Lebenslauf sie haben würden. Heute können sie sich sagen, dass sie auch noch Minister oder Ministerpräsident werden können. Dass das möglich ist, das war selbst in den 1980er-Jahren noch undenkbar.
tagesschau.de: Wie leben Sie heute?
Bruns: Ich lebe seit 26 Jahren mit meinem Partner zusammen, eine sehr schöne Partnerschaft. Wir haben ein ganz wunderbares Verhältnis zu meiner Frau. Wir haben auch ein gutes Verhältnis zu den Kindern, wir haben die Enkelkinder mit betreut. Ich habe ein wahnsinnig großes Glück gehabt.