Integration an Schulen Auf dem Rücken der Lehrer
Kanzlerin Merkel hat sich mit 50 Lehrern getroffen, um über Integration von Flüchtlingen an Schulen zu sprechen. Die bleibt bisher vor allem an den Lehrkräften hängen. Wo die Probleme konkret liegen.
Etwa 130.000 Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung hat das deutsche Schulsystem seit 2015 Schätzungen zufolge aufgenommen. Eine enorme Herausforderung - vor allem für die Lehrer. Denn wenn man sich anschaut, wie Integration an deutschen Schulen derzeit funktioniert, tragen sie die größte Verantwortung.
An einem Gymnasium in Berlin-Schöneberg beispielsweise unterrichtet Lydia Puschnerus eine Vorbereitungsklasse. Hier bringt sie Kindern und Jugendlichen, die nach Deutschland geflüchtet oder aus anderen Gründen zugewandert sind in erster Linie die deutsche Sprache bei. Ein paar Stunden Mathe, Englisch und Ethikunterricht bekommen die Kinder auch.
Lehrerin: "Stärker an Familien herantreten"
Doch die Lehrerin fühlt sich oft eher als Sozialarbeiterin. "Die Kinder und ihre Eltern wissen oft gar nicht, wie Schule in Deutschland funktioniert, manche kennen keinen Kalender, geschweige denn ein Hausaufgabenheft oder eine Bibliothek", sagt sie im Gespräch mit tagesschau.de. Auch Fehlzeiten seien ein großes Problem. Dann sei sie es, die den Eltern hinterhertelefoniere und erkläre, dass sie ihr Kind abmelden müssen, wenn es nicht zur Schule kommt. Immer und immer wieder.
"Wir müssten von Anfang an und viel stärker an die Familien herantreten", sagt Puschnerus. Zu hoffen, die Kinder würden schon von allein die Sprache lernen und auf dem Schulhof Anschluss finden, sei eine Illusion. "Gelungene Integration funktioniert nur Hand in Hand mit den Elternhäusern." Doch dafür bräuchte es viel mehr Personal, Sozialarbeiter, die die Eltern und Familien engmaschig begleiten.
Es fehlt an individuellen Förderstunden.
Schüler mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen
Dabei läuft es an ihrer Schule noch vergleichsweise gut. Sie wird von fünf anderen Lehrkräften bei ihrer Arbeit unterstützt, aus ihrer Netzwerkarbeit und runden Tischen weiß sie aber, dass manche Kollegen das alleine stemmen müssen - und unter der Last fast zusammenbrechen. Denn allein von den vielen unterschiedlichen Bedürfnissen der Schüler im Unterricht ist ein einzelner Lehrer völlig überfordert.
"Wenn die Klassen zu groß und die Zahl der Lehrer zu gering ist, lassen sich die Probleme schwerer lösen, als wenn man die personellen Möglichkeiten hat", sagte Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Treffen mit Lehrern heute. Daran müsse sich etwas ändern. Wir dringend notwendig das ist, zeigt ein Blick auf die Unterschiede in den Klassen.
Manche der Kinder mit Fluchterfahrung sind nicht alphabetisiert, weder in ihrer Herkunfts- noch in der deutschen Sprache, manche können nicht still sitzen, weil sie von Kriegs- und Fluchterfahrung geprägt sind und jahrelang keinen strukturierten Tagesablauf hatten, manche sind traumatisiert oder dauerhaft übermüdet, weil sie in Flüchtlingsunterkünften zu wenig Schlaf bekommen. Wieder andere sind Kinder von hochspezialisierten ausländischen Fachkräften, die viel an Vorbildung mitbringen.
Die Unterschiede beschäftigten auch Merkel: Sie bedankte sich bei den Lehrern dafür, dass sie das Thema offen angesprochen hätten: "Denn Sie haben vielen aus dem Herzen gesprochen."
Kanzlerin Merkel mit einem Lehrer beim Treffen im Kanzleramt. Bei der Integration an Schulen sieht sie Handlungsbedarf.
Kaum individuelle Förderung
Wenn ein Kind Glück hat, gerät es in die Klasse eines guten, engagierten Lehrers, der seine Freizeit für Elterngespräche oder das Ausfüllen von Anträgen opfert. Wenn das Kind Pech hat, bleibt es auf der Strecke. Eine zynische Erkenntnis, wenn man bedenkt, dass hier die Weichen für eine gesamte Bildungsbiografie gestellt werden, also die Zukunft eines Menschen davon abhängt.
Noch größer wird das Problem, wenn die Schüler nach ein bis zwei Jahren aus den Vorbereitungsklassen in den Regelunterricht übergehen. Ziel ist, dass sie dann das Sprachniveau B1 erreicht haben - was allerdings noch nicht ausreicht, um dem regulären Unterricht problemlos folgen zu können. Es wäre also weitere individuelle Förderung nötig. Doch das passiert an vielen Schulen kaum. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR).
Studie: "Viele könnten untergehen"
Für die Studie vom März dieses Jahres wurden in fünf Bundesländern an 56 weiterführenden Schulen sogenannte Fellows, also Assistenzlehrer, der Organisation "Teach First" befragt. Ihre Befürchtung: Zahlreiche zugewanderte Jugendliche laufen in den nächsten Jahren Gefahr, im Schulbetrieb unterzugehen. "Wie sollen diese Schüler, die zum Teil lange Zeit keine Schule besucht haben, in Deutsch aber vor allem auch in den anderen Fächern mitkommen?", fragt "Teach First"-Geschäftsführer Ulf Matysiak. Dafür gebe es noch keine zufriedenstellenden Antworten. "Es gibt kein verbindliches, institutionalisiertes Angebot an zusätzlichen Förderstunden. Das müssen die Schulen selbst organisieren über extra Fördertöpfe der Länder oder Kooperationen mit gemeinnützigen Trägern", sagt er.
Die Regelungen und die Praxis sind in den Ländern, in den Kommunen und sogar von Schule zu Schule teils völlig unterschiedlich. Die in der SVR-Studie befragten Fellows geben zwar an, dass in etwa die Hälfte der Schüler aus Willkommensklassen im Regelunterricht in kurzer Zeit beträchtliche Lernerfolge erzielten. Dies sei jedoch auf deren oft großen Lerneifer oder ihre Vorbildung zurückzuführen. Die Risikofälle hingegen müssten sprachlich, fachlich, sozialpädagogisch und mitunter auch psychologisch viel stärker unterstützt werden als bisher.
Chancen an Brennpunktschulen schlechter
Gerade wenn Flüchtlinge an Schulen mit einem hohen Anteil an Migranten und Schülern aus sozial benachteiligten Familien kommen, was häufig der Fall ist, stehen ihre Chancen schlechter. "An diesen Schulen sind die Lehrer häufig ohnehin schon stark belastet, die Möglichkeiten für individuelle Förderungen geringer", sagt Matysiak. "In unserem ohnehin sehr selektiven Bildungssystem, wo der Bildungserfolg stark von der Herkunft der Eltern abhängt, werden viele dieser Kinder und Jugendlichen durchs Raster fallen."
Die Autoren der SVR-Studie fordern deshalb eine gezieltere Verteilung von Flüchtlingen an Schulen um eine stärkere Durchmischung zu gewährleisten. Außerdem eine bedarfsorientierte Schulfinanzierung mit deutlich mehr Personal und eine bessere Lehrerbildung. Lehrer sollten flächendeckend schon im Studium darin ausgebildet werden, wie sie das Erlernen der deutschen Sprache fördern können und: "Wir müssen vor allem die Lehrer stärken, die schon da sind, insbesondere mit verpflichtenden Weiterbildungen", findet Matysiak.
In Zeiten des akuten Lehrermangels und der hohen Zahl an Quereinsteigern, also Lehrern mit ohnehin wenig pädagogischer Ausbildung, klingt das wie ein frommer Wunsch. Das Problem hat auch die Bundesregierung längst erkannt. Schule habe eine Schlüsselrolle für Integration und Wertevermittlung und es müsse ausreichend Personal in den Klassenzimmern geben, sagt auch die Integrationsbeauftragte des Bundes Annette Widmann-Mauz zu tagesschau.de. Wie das konkret funktionieren soll, ließ sie offen.