Fragen und Antworten Insektensterben - wie groß ist das Problem?
Ein "Runder Tisch" soll heute klären, was dem Bienen-Volksbegehren in Bayern folgt. Wie groß ist das Problem eigentlich? Welche Folgen hat das Insektensterben? Und stehen Bauern zu Recht am Pranger?
Welches Ausmaß hat das Insektensterben?
Ein sehr großes. Ein Großteil der Insekten ist bereits weg, das zeigte Ende 2017 die "Krefelder Studie": In nur knapp drei Jahrzehnten sind Dreiviertel aller Fluginsekten verschwunden - bezogen auf die reine Biomasse. Das bedeutet: Für jedes Kilo fliegender Insekten, die 1989 in eine Lebendfalle gerieten, waren es 2016 nur noch 250 Gramm. Und das nicht in Vorstadt-Gärten, sondern in Naturschutzgebieten.
Es ist absolut dramatisch: Wir haben ein globales Massen-Aussterben, mit einer solchen Geschwindigkeit, wie es seit der Zeit der Dinosaurier nicht mehr passiert ist." (Andreas Segerer von der Zoologischen Staatssammlung München)
Sind nur bestimmte Insektenarten betroffen?
Nein, bei fast der Hälfte aller Insekten, die in den bundesweiten Roten Listen gefährdeter Arten aufgeführt sind, nehmen die Bestände ab: Diese Arten sind rückläufig, akut gefährdet oder bereits ausgestorben. 41 Prozent der rund 560 Bienenarten in Deutschland sind beispielsweise in ihrem Bestand gefährdet - fast jede zweite Art.
Führende Insektenforscher Deutschlands übergeben heute eine Resolution gegen das Insektensterben an Bundesumweltministerin Svenja Schulze. Der starke Rückgang von Insekten in Mitteleuropa erreiche Ausmaße mit unabsehbaren Folgen für Ökologie und Ökonomie, warnen sie. Wenn es keinen Lebensraum mehr für Wildbienen und Co. gibt, werden Nutzpflanzen nicht mehr ausreichend bestäubt.
Aber nicht nur die Bienen verschwinden: Auch bei Käfern, Libellen, Ameisen, Köcherfliegen oder Schmetterlingen sinken bei vielen Einzelarten die Vorkommen dramatisch. Bei manchen ursprünglich häufigen Schmetterlingsarten flattert heute nur noch einer durch die Luft, wo es früher hundert waren. Und jede dritte Schmetterlingsart ist bereits ganz verschwunden.
Allerdings sind in den Roten Listen nur knapp ein Viertel der heimischen Insekten aufgeführt. Über den Großteil der Insekten in Deutschland wissen wir zu wenig, denn Insektenbestände sind schwer zu bestimmen: Gezählt werden sie vor allem durch ehrenamtliche Insektenkundler - und auch die werden immer weniger.
Welche Folgen hat das Insektensterben?
Bei Bienen und anderen Bestäubern drängt sich natürlich sofort auf, welche Folgen ihr Aussterben hätte: Nicht nur 90 Prozent aller Wildblumen werden von Insekten bestäubt, auch Dreiviertel all unserer Nutzpflanzen. Keine Bienen - keine Birnen, keine Kirschen, keine Äpfel.
Aber Köcherfliegen? Dunkelmücken? Heuschrecken? Da muss man etwas weiter denken. Insekten stehen weit vorne in oft langen Nahrungsketten: Vögel und kleine Säugetiere, aber auch Fische und Reptilien haben ausgewachsene Insekten oder deren Larven, Maden oder Raupen auf dem Speiseplan. Auf das Insektensterben könnte daher ein Vogelsterben folgen. Schon jetzt sind die Bestände vor allem der Vogelarten rückläufig, die sich während der Brut von Insekten ernähren.
Insekten erbringen aber auch noch ganz andere, "elementare Ökosystemleistungen", wie es das Bundesumweltministerium ausdrückt. Sie transportieren Samen quer durch Wald und Flur, lockern die Böden auf, vernichten Aas oder entsorgen tierischen Kot, sie bauen organische Masse wie Totholz oder das abgeworfene Laub ab und erhalten damit die Fruchtbarkeit der Böden. Und Insekten reinigen Gewässer - die Dunkelmücken zum Beispiel.
Deswegen sind Wissenschaftler und Umweltschützer sehr besorgt: Insekten sind von überlebenswichtiger Bedeutung für viele Ökosysteme. Diese könnten kollabieren, wenn die Insekten fehlen. Und dazu muss eine Art nicht einmal ausgestorben sein. Kommen von ihr nur noch einzelne Individuen in weit auseinanderliegenden Gebieten vor, ist der Nutzen der Insektenart für ein Ökosystem verloren.
Was sind die hauptsächlichen Ursachen für das Insektensterben?
Vereinfacht ausgedrückt: fehlender Lebensraum, fehlende Nahrung und dazu noch Gift. Ein betonversiegeltes Industriegebiet ist kein Lebensraum für Insekten. Ein Maisfeld aber genausowenig. Der Mensch hat in den vergangenen Jahrzehnten systematisch dafür gesorgt, dass es für Insekten nicht mehr genügend wilde Natur gibt. Viele Arten sind extreme Spezialisten, die ganz bestimmte Pflanzenarten brauchen. Aber die Biodiversität nimmt bei uns ab - in dem Maße, in dem die Intensivierung der Landwirtschaft zunimmt.
Monokulturen, Geländeversiegelung und Pestizide machen den Insekten den Garaus - aber auch Überdüngung: Viele Schmetterlingsarten sind auf nährstoffarme Pflanzen spezialisiert. Auf einer fetten Wiese voller Löwenzahn verhungern sie einfach. Und der Nährstoffeintrag in Gewässer schadet den Larven, die dort leben.
Im Detail sind die Ursachen für die einzelnen Insektenarten unterschiedlich: Bienen werden beispielsweise von Insektiziden geschädigt, Straßenlampen stören sie eher weniger. Aber eine einzige Straßenlampe kann die gesamte Köcherfliegen-Population eines 200 Meter breiten Gewässerstreifens töten, weil sie die Tiere wie ein Staubsauger anzieht. Naturschutzgebiete machen mit nur vier Prozent der Fläche Deutschlands einen zu geringen Anteil aus und sind zu vereinzelt und oft auch zu klein, um diesem Massensterben etwas entgegenzusetzen.
Warum steht in der politischen Diskussion die Landwirtschaft im Fokus?
Agrarland macht die Hälfte der Fläche Deutschlands aus. Dazu kommen noch einmal 30 Prozent an Waldflächen. Siedlungen, Straßen und Industrie summieren sich gerade einmal auf ein Fünftel der Landesfläche.
Zugleich hat sich in der Landwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten ein gravierender Wandel vollzogen, den Wissenschaftler als Hauptursache des Insektensterbens ansehen. Immer mehr Grünflächen werden in Ackerland umgewandelt, immer mehr Monokulturen entstehen, verschärft noch durch den Anbau von Pflanzen für Biokraftstoffe. Verbleibende Grünflächen werden immer intensiver bewirtschaftet, also immer stärker mit Nährstoffen angereichert, immer öfter gemäht. Ackerraine, Brachfelder, Hecken zwischen den Feldern oder unbearbeitete Wegesränder verschwinden. Pestizide und Düngemittel tun ihr übriges.
Die intensive Landwirtschaft ist hauptverantwortlich für den dramatischen Rückgang im Bestand von Bienen, Fliegen, Käfern, Schmetterlingen." (Bundesumweltministerin Svenja Schulze)
Im Streit um das in Bayern erfolgreiche Volksbegehren "Rettet die Bienen" haben Landwirte gefordert, dass doch auch Privatpersonen und Kommunen gezwungen sein sollten, einen Anteil ihrer Gärten und Grünanlagen insektenfreundlich zu belassen. Der Haken daran: Private Gärten und öffentliche Grünanlagen machen zusammen noch nicht mal ein Prozent der Fläche Deutschlands aus.
Ist der Rückgang der Insekten unumkehrbar?
Das kommt darauf an: Ist eine Insektenart bei uns ausgestorben, ist es unwahrscheinlich, dass sie eines Tages wieder angesiedelt werden könnte. Und bis sich die Umstände, die die Insekten bedrohen, nachhaltig ändern, könnte es für viele akut bedrohte Arten ebenfalls zu spät sein.
Aber wenn schnell und nachhaltig Maßnahmen ergriffen werden, die die Lebensräume und das Nahrungsangebot der Insekten verbessern, ist schon davon auszugehen, dass sich die Bestände vieler Arten erholen können. Und das ist auch das erklärte Ziel des Aktionsprogramms "Insektenschutz" des Bundesumweltministeriums. Allerdings ist dazu ein massives Umdenken nötig.
Was könnte den Insekten helfen?
Insekten brauchen wilde Natur, Brachland, ungenutzte Wiesen, Pfützen, tote Bäume, Sträucher und Hecken. Wilde Blumen an Feld- und Wegesrändern würde ihnen guttun, Unkraut und Totholz ebenfalls. So viel unkultivierte Naturfläche neben der landwirtschaftlich genutzten Fläche wie möglich, und zwar wirklich daneben: Wenn "Insekteninseln" zu weit voneinander entfernt sind, leiden die vereinzelten Populationen unter Inzucht.
Wenn Wiesen später und seltener gemäht werden, finden Insekten mehr Nahrung, wenn sie langsamer gemäht werden, könnten sie auch die Mahd selbst überleben. Ein größerer Reichtum in den angebauten Pflanzenarten, größere Biodiversität auf dem Acker würde viel ändern. Aber auch in der Forstwirtschaft und sogar im Management von Naturschutzgebieten sollte mehr Augenmerk auf die Bedürfnisse der Sechsbeiner gelegt werden, genauso in der Pflege öffentlicher Grünanlagen. Und auch im privaten Garten gilt: je mehr wilde Natur, umso besser für die Insekten.