Rede zur Lage der Nation Abschied von den alten Träumen
Es war eine Rede, die überfällig war: Bundespräsident Steinmeier hat die Menschen auf schwere und unsichere Zeiten eingeschworen. Aber wie nachhaltig können die Worte des Präsidenten sein?
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sieht Deutschland und seine Bürger vor schwierigen Herausforderungen in den nächsten Jahren. In seiner Grundsatzrede bezeichnete Steinmeier Russlands Angriff auf die Ukraine als "Epochenbruch".
Die Zeit vor dem 24. Februar sei eine "Epoche mit Rückenwind" gewesen. Deutschland habe von der Friedensdividende nach Ende des Kalten Krieges profitiert. Nun habe eine "Epoche im Gegenwind" begonnen: "Es kommen härtere Jahre, raue Jahre auf uns zu."
Für Deutschland fordert Steinmeier eine neue Rolle. Jahrzehntelang hätten die USA "die schützende Hand über uns gehalten". Deutschland sei zwar keine globale Führungsmacht, müsse aber mehr Verantwortung in Europa und in der NATO übernehmen. Dazu gehöre auch eine starke Bundeswehr. Es sei "höchste Zeit", dass der Respekt für die Bundeswehr in der Gesellschaft wachse.
"Stehen heute gegeneinander"
Mit Blick auf Russland sieht der Bundespräsident keinen Platz mehr "für alte Träume". Putins Angriffskrieg habe Gorbatschows Traum vom "gemeinsamen Haus Europa" zertrümmert. Deutschland und Russland "stehen heute gegeneinander", dämpfte Steinmeier Hoffnungen auf Friedensverhandlungen. Putin habe das Völkerrecht gebrochen und Landraub begangen. Hier ließ Steinmeier auch Selbstkritik anklingen.
Nach dem unblutigen Ende des Kalten Krieges hätten sich viele Deutsche Hoffnung auf eine friedliche Zukunft mit Russland gemacht: "Diese Hoffnung hatte auch ich, und sie war Antrieb für meine Arbeit in vielen Jahren." Ein längeres Mea Culpa vermied Steinmeier jedoch, obwohl er als früherer Außenminister und Kanzleramtsminister unter Gerhard Schröder mitverantwortlich für die gescheiterte Russland-Politik und Deutschlands Abhängigkeit von russischem Erdgas war.
"Zeiten des Gegenwinds"
Die Rede zur Lage der Nation sollte nicht zu viel Rückschau enthalten, sondern den Blick nach vorne richten, vor allem den Deutschen Mut machen. Auch in "Zeiten des Gegenwinds" sei Deutschland eine starke Demokratie, eine "freie, vielfältige Republik" selbstbestimmter Bürger, wirtschaftlich stark, mit guten Forschungseinrichtungen, starken Unternehmen, einem leistungsfähigen Staat und einer großen und starken Mitte in seiner Gesellschaft.
Damit dies so bleibe, brauche Deutschland "widerstandskräftige Bürger", die dem "Gift des Populismus" und der "Gefahr des Auseinanderdriftens" etwas entgegensetzen. Der Bundespräsident appellierte an Bürger und politisch Verantwortliche: "Anstatt uns weiter auseinandertreiben zu lassen, müssen wir alles stärken, was uns verbindet" - einer der Schlüsselsätze und auch der Titel seiner Grundsatzrede.
Alle Parteien, keine Minister
Angesichts der Folgen des Krieges gegen die Ukraine, den hohen Energiepreisen und den wachsenden Protesten vor allem im Osten Deutschlands beschwor der Bundespräsident die Bürger, vorhandene Gräben zu schließen - zwischen Jung und Alt, Ost und West, Stadt und Land. Auch der Rahmen der Rede sollte dies verdeutlichen: Es war eine Veranstaltung der Deutschen Nationalstiftung, deren Zweck es ist, das Zusammenwachsen Deutschlands zu fördern.
Entsprechend breit war das Spektrum der Zuhörerinnen und Zuhörern im Schloss Bellevue. Alle Parteien waren vertreten, auch Steinmeiers Amtsvorgänger Christian Wulff und Joachim Gauck, erstaunlicherweise jedoch keine Ministerin und kein Minister der Ampel-Regierung.
Steinmeier nutzte das Forum, um seine Forderung nach einem sozialen Pflichtjahr zu erneuern. Er sei überzeugt, dass es keine Zumutung ist, "wenn wir die Menschen fragen, was sie für den Zusammenhalt zu tun bereit sind". Und in einem Anklang an das berühmte Kennedy-Zitat wünschte er sich, "dass wir nicht als erstes fragen: 'Wer kann mir die Last abnehmen'? Sondern eher: 'Hilft das, um gemeinsam durch die Krise zu kommen?'"
Kein Zurück
Mit seiner Grundsatzrede wollte der Bundespräsident den Bürgern Orientierung in einer unsicheren und unübersichtlichen Zeit geben. Nachvollziehbar erklärte Steinmeier, warum es kein Zurück in die Epoche vor dem 24. Februar geben kann, warum Friedensverhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt falsch wären, warum Deutschland dennoch - trotz der bevorstehenden harten Jahre - zuversichtlich in die Zukunft schauen kann, wenn es uns gelingt, Spaltung und Polarisierung zu überwinden. Die Herausforderungen durch den Klimawandel, die als weiteres Thema der Rede angekündigt worden waren, wurden nur kurz skizziert.
Die Rede des Bundespräsidenten war längst überfällig. Steinmeier hatte lange, vielleicht zu lange gezögert. Immer wieder war in den vergangenen Wochen die Frage gestellt worden: "Wo ist eigentlich der Bundespräsident?"
Jetzt nach seiner Reise in die Ukraine hielt er den richtigen Zeitpunkt für gekommen. Es war vielleicht keine große, aber doch eine gute Rede, für die es an drei Stellen Applaus gab. Ob sie ähnlich nachhaltig wirkt wie die seiner Amtsvorgänger Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 oder Roman Herzogs "Ruck-Rede" 1997, wird man erst in einigen Jahren wissen.