Ein Jahr Lauterbach Minister Atemlos
Karl Lauterbach warnt noch vor Corona, da türmt sich schon die nächste akute Krise auf: Für Kinder mit Atemwegsinfekten gibt es kaum noch freie Betten. Der Minister packt viel an - aber macht er auch das Richtige?
Karl Lauterbach steht neben einer jungen Mutter im St. Joseph Krankenhaus in Berlin. Die Frau hält behutsam ihr in eine Decke eingewickeltes Neugeborenes auf dem Arm. "Ihr erstes Kind?", fragt der Gesundheitsminister etwas unbeholfen. Nein, es sei bereits das dritte Kind, antwortet sie. "Sieht man, routinierte Haltung", attestiert Lauterbach der jungen Frau und verneigt sich leicht. Es ist wohl kein Zufall, dass Lauterbach für den Pressetermin Ende November die geburtenstärkste Einzelklinik Deutschlands ausgewählt hat. 4548 Babys sind hier im vergangenen Jahr zur Welt gekommen. Er wolle mehr für Kinder tun. Das habe er sich schon vorgenommen, bevor er Minister wurde, sagt der SPD-Politiker.
Fast hätte man in diesem Moment vergessen können, warum der SPD-Politiker vor einem Jahr vor allem ins Ministeramt gekommen ist: Der beliebte Pandemie-Erklärer gehörte zu den gefragtesten Experten in der Corona-Krise. Doch nach fast drei Jahren Pandemie hat die Angst vor dem Virus bei vielen spürbar abgenommen. Sorgen bereiten eher andere Themen. Der Berliner Virologe Christian Drosten spricht in einem Zeitungsinterview von "Zeichen für das kommende Ende der Pandemie". Auch wenn der Virologe, wie der stets mahnende Gesundheitsminister, davon ausgeht, dass die Zahlen im Winter noch mal steigen werden.
Lauterbach dürfte das Interview mit Drosten gelesen haben, als er Ende November im Bundestag ans Rednerpult trat. Es gebe durchaus Hinweise, dass sich das Virus in eine Sackgasse bewegt habe, sagte der Minister. Für ein paar Monate werde es aber noch mal schwerer werden. Danach werde man wohl anders mit dem Virus umgehen können. Für Lauterbach ist das Grund genug, erneut vor Unvorsichtigkeit zu warnen. "Verlieren wir jetzt, verlieren wir jetzt bitte nicht die Geduld!", sagte er fast flehentlich im Bundestag.
Er warnt und warnt und warnt
Seine Sorgen können Lauterbachs Follower in Echtzeit auf Twitter mitlesen: Warnungen vor wieder steigenden Corona-Zahlen, ein Anstieg der Todesfälle und Übersterblichkeit, also eine erhöhte Sterberate. "Wir haben eine alte Bevölkerung, und wir haben Impflücken in der alten Bevölkerung", warnt der Minister. Lauterbach verweist auf eine anstehende Winterwelle und rund 1000 Menschen, die derzeit pro Woche an oder mit dem Coronavirus sterben würden.
Doch eindeutig belegen lässt sich der Zusammenhang mit Corona oftmals nicht. In die Statistik fließen auch Verstorbene mit Vorerkrankungen ein, bei denen sich die Todesursache nicht eindeutig nachweisen lässt. Diese Tendenz habe sich im Vergleich zu vorhergehenden Corona-Wellen deutlich verstärkt, sagt Virologe Martin Stürmer. "Heutzutage haben wir durch die Impfungen, durch die Therapiemöglichkeiten, durch die Grundimmunisierung oder Grund-Herdenimmunität in der Bevölkerung ganz andere Voraussetzungen." Bei vielen Menschen, die jetzt sterben, sei der Nachweis von Corona ein Zufallsbefund und habe mit der eigentlichen Todesursache nichts mehr zu tun.
Im Dauerclinch mit der FDP
Lauterbachs Pandemie-Mahnungen und Warnungen verpuffen inzwischen weitgehend ungehört. In der Ampel-Koalition konnte er seinen vorsichtigen Corona-Kurs bisher kaum durchsetzen. Die Einführung der allgemeinen Impfpflicht scheiterte im April im Bundestag. Die Impfpflicht für Personal in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen soll auslaufen. Der Kompromiss mit Justizminister Marco Buschmann im Spätsommer für Pandemieschutzmaßnahmen bis zum Frühjahr 2023 war hart erkämpft.
Ganz fest schien Lauterbach damals überzeugt davon, dass die Länder allesamt von ihrem Recht Gebrauch machen würden, im Herbst und Winter wieder eine Maskenpflicht in Innenräumen zu erlassen. Das Gegenteil war der Fall. Mehrere Bundesländer haben inzwischen das Ende der Isolationspflicht von Corona-Infizierten beschlossen. Ein Schritt, zu dem sie FDP-Justizminister Buschmann ermuntert hatte. Auch die Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr wird von mehreren Ländern bereits infrage gestellt. Ganz zum Unmut Lauterbachs, der die Länder für den "Überbietungswettbewerb" kritisiert und eine Lockerungsspirale mitten im Winter befürchtet.
Auch Virologe Stürmer hält davon nichts. Vor allem, weil Long Covid noch ein ungeklärtes Problem sei und, weil er neben Corona eine starke Erkältungswelle befürchtet. Das könne zu sehr vielen Ausfällen in der kritischen Infrastruktur führen.
Karl-Josef Laumann, Gesundheitsminister aus Nordrhein-Westfalen, sieht das ähnlich. Der CDU-Politiker will vorerst an der Maskenpflicht in Bussen und Bahnen und an der Isolationspflicht festhalten. "Ich finde die Maske nicht besonders freiheitseinschneidend", sagt Laumann dem ARD-Hauptstadtstudio. Er sehe das auch sehr pragmatisch. Natürlich könne man die Maskenpflicht in Zügen und Straßenbahnen rechtlich nur wegen des Corona-Infektionsschutzgesetzes verhängen. Die Maßnahme helfe aber jetzt auch in der Grippewelle. Die Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen seien derzeit wegen Personalausfällen aufgrund der Grippe in der Versorgung mehr belastet als wegen Corona. "Zudem stehen wir ja erst am Anfang des Winters", sagt Laumann.
Hohe Arbeitsbelastung im Ministerium
Doch es gibt mehr zu tun als den Kampf gegen Corona. Im Gesundheitsministerium stapeln sich die Vorhaben. Die Mitarbeiter des Hauses sollen regelrecht ächzen unter der Arbeitslast. Lauterbach will viel anpacken, mit ungeheurem Tempo und oftmals vieles gleichzeitig. 48 Rechtsverordnungen und zwölf Gesetze hat er seit Amtsbeginn auf den Weg gebracht. Nicht alles mag auf Anhieb gelingen. Sein Gesetz zur finanziellen Stabilisierung der Krankenkassen brachte Hebammen auf die Barrikaden. Sie fürchteten, den Sparmaßnahmen in Krankenhäusern zum Opfer fallen. Nach heftigem Protest lenkte Lauterbach ein und korrigierte das Vorhaben. Doch der Eindruck blieb, dass der Minister am liebsten auf sich selbst hört.
Auch er habe das Gefühl, dass Lauterbach manchmal einfach mache, was er wolle, sagt NRW-Amtskollege Laumann. Menschlich sei aber Lauterbach ein "feiner Kerl". Und wenn man ihm eine SMS schreibe mit der Bitte um ein Gespräch, dann dauere es meistens keine drei Stunden, bis man ein vernünftiges Telefonat mit ihm führen könne.
Den kurzen Draht zu Lauterbach wünscht sich Laumann auch beim Thema Krankenhausreform. Lauterbach plant Großes: Er will den ökonomischen Druck in den Kliniken verringern. Laumann begrüßt das, aber: "Krankenhausplanung ist Ländersache. Bei der Reform muss Lauterbach sich gut mit uns absprechen."
Dem Bundesgesundheitsminister wird die Arbeit also auch im zweiten Jahr seiner Amtszeit nicht ausgehen: Umgang mit Corona, Krankenhausreform, Pflegemangel, Legalisierung von Cannabis, Digitalisierung im Gesundheitswesen, Lieferengpässe bei Arzneimitteln. Lauterbachs To Do-Liste ist lang.
Anfang Dezember, eine gute Woche nach seinem Besuch auf der Geburtshilfe- und Kinderstation im St. Joseph-Krankenhaus in Berlin, steht Lauterbach im Atrium seines Ministeriums. Seine Pressestelle wird von Anfragen überrollt, weil Intensiv- und Notfallmediziner Alarm schlagen. Die Zahl der Atemwegsinfektionen bei Kindern steigt stark, Betten sind knapp. Notfallpatienten müssen teilweise abgewiesen werden. Lauterbach kündigt an, dass Pflegekräfte aus anderen Stationen aushelfen sollen. Es ist nur eine Notfallmaßnahme. Eine dauerhafte Lösung braucht Zeit. Ein knappes Gut in Lauterbachs Ministerleben.