Wahlen in Sachsen und Thüringen Ergebnisse schüren Sorgen um Wirtschaft und Demokratie
Nach den Landtagswahlen warnen Wirtschaftsexperten vor Abwanderung von Fachkräften und politischem Stillstand. Die Amadeu Antonio Stiftung sorgt sich um die Demokratie, Religionsvertreter zeigten sich entsetzt.
Die Erfolge der AfD und des BSW bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen schüren vielfältige Ängste. Wirtschaftsexperten und -verbände warnen vor ernsthaften Folgen der Wahlergebnisse für das Wirtschaftswachstum und für ostdeutsche Standorte.
Vor allem die AfD stehe für Protektionismus und eine Abschottung von Europa, für weniger Zuwanderung von Fachkräften und eine geringere Offenheit und Vielfalt, sagte etwa der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, der Nachrichtenagentur Reuters.
Er halte es für sehr wahrscheinlich, dass die Wahlergebnisse zu einer Abwanderung von Unternehmen und auch Fachkräften führen werde. "Vor allem junge, gut qualifizierte und hoch motivierte Bürgerinnen und Bürger werden die beiden Bundesländer verlassen und dorthin gehen, wo sie mehr Offenheit und Wertschätzung erfahren", sagte der Ökonom. "Dies dürfte einen Anstieg der Insolvenzen und einen Exodus von Unternehmen zur Folge haben."
Wirtschaftsweise warnt vor Stillstand
Ähnlich äußerte sich der Präsident des Digitalverbands Bitkom, Ralf Wintergast, der die Wahlergebnisse ein "Warnsignal" für die Digitalwirtschaft nannte. "Deutschland muss ein Land bleiben, das für Weltoffenheit und Innovationsfreude steht." Diese Werte würden weder AfD noch BSW vertreten. Ohne qualifizierte Zuwanderung könne Deutschland seinen Fachkräftebedarf nicht decken. "Die geplanten Halbleiterfabriken in Sachsen werden wir ohne Fachkräfte aus dem Ausland nicht betreiben können", sagte Wintergerst gegenüber Reuters. "Solche Spitzenkräfte können ihren Arbeitsort frei wählen."
"In Thüringen ist das Wahlergebnis eine Abrechnung mit der Ampel", sagte die Präsidentin der Familienunternehmer, Marie-Christine Ostermann. "Die wirtschaftsfeindliche AfD wie auch die Blackbox BSW haben die größten Zuwächse bei der Thüringer Landtagswahl." Ostermann rief die zweitplatzierte CDU dazu auf, die Verantwortung für die Bildung einer neuen Regierung zu übernehmen.
Die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer warnte angesichts der schwierigen Regierungsbildung in Sachsen und Thüringen vor Stillstand. "Die Regierungsbildung wird schwierig werden, in Thüringen noch schwieriger als in Sachsen, das kann Wochen oder gar Monate dauern", sagte die Chefin des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung gegenüber Reuters.
Ohne stabile Mehrheit gebe es keine politischen Entscheidungen. Vor allem werde kein Landeshaushalt verabschiedet. "Das bedeutet aber, dass Unternehmen, Hochschulen, kulturelle Einrichtungen, Bürgerinnen und Bürger keine Planungssicherheit haben", sagt die Top-Ökonomin. "Gerade für die Wirtschaft ist Unsicherheit aber Gift, die Unternehmen werden Investitionspläne verzögern oder ganz aufgeben, mit negativen Auswirkungen auf das Wachstum." Es müsse deshalb zügig Klarheit geschaffen werden, wie es nun weitergehe, inklusive der Optionen einer Minderheitsregierung oder gar von Neuwahlen.
Forderung nach weiterer Stärkung der Zivilgesellschaft
Für die Amadeu Antonio Stiftung, die sich gegen Rechtsextremismus und Rassismus in der Gesellschaft einsetzt, gefährden die Wahlergebnisse die Demokratie in Deutschland. Der Geschäftsführer der Stiftung, Timo Reinfrank, warnte vor einer Normalisierung des Rechtsextremismus. Es sei unerlässlich, dass die Bundesregierung "zivilgesellschaftliches Engagement in Ostdeutschland weiterhin unterstützt und absichert". Besonders besorgniserregend sei der hohe Zuspruch der AfD unter jungen Menschen. "Das zeigt, dass wir in der Schul- und Jugendsozialarbeit sowie in der Prävention noch viel mehr tun müssen, um Jugendliche vor rechtsextremen Einflüssen zu schützen", so Reinfrank.
Der Geschäftsführer des Internationalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner, erklärte, die Zustimmung für die AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen sei "für Überlebende der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager zutiefst deprimierend und ein Schlag gegen das Vertrauen, das sie Deutschland mittlerweile wieder entgegenbringen".
Dass gerade in Deutschland so viele Menschen einer Partei vertrauen, "die mehr als braun gesprenkelt ist und sogar von anderen rechtsextremen Parteien in Europa als zu vergangenheitsbehaftet ausgegrenzt wird", sei für die Überlebenden bisher unvorstellbar gewesen. Vor der Mehrheit der Demokraten stehe nun die wichtige Aufgabe, die Demokratie zu verteidigen.
Entsetzen bei Religionsvertretern
Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), Thorsten Latzel, bezeichnete die Wahlergebnisse als "erschreckend". Die evangelische Kirche werde sich "weiter für eine offene Gesellschaft und die Stärkung der Demokratiefähigkeit engagieren", sagte der leitende Geistliche der zweitgrößten evangelischen Landeskirche in Deutschland dem Kölner Stadt-Anzeiger. Die Politik müsse Probleme angehen; zudem brauche es "mehr Dialog und klare Abgrenzung gegen Hass und Hetze".
Ein düsteres Bild für die Zukunft der Bundesrepublik zeichnete die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch. Deutschland drohe ein anderes Land zu werden: "instabiler, kälter und ärmer, weniger sicher, weniger lebenswert", sagte sie am Wahlabend.
Niemand solle jetzt noch von Protestwählern sprechen "oder andere Ausflüchte suchen", mahnte die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. "Die zahlreichen Wähler haben ihre Entscheidung bewusst getroffen, viele wollten die Extremisten an den Rändern in Verantwortung bringen." Nicht nur Minderheiten müssten sich jetzt fragen, was diese Entwicklung für jede und jeden Einzelnen bedeute: "Wie hier die Zukunft aussieht, ist ab heute wieder eine große und schwierige Frage."