Streit über Kindergrundsicherung Der schwierige Kampf gegen Kinderarmut
Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen. Familienministerin Paus fordert zusätzliche Milliarden für die Kindergrundsicherung. Aber gibt es auch einen Plan, wie das Geld eingesetzt werden soll?
Michaels Leben ging schwierig los. Als er zwei Jahre alt war, wurde er ins Heim gegeben. Heute ist er 19 Jahre und kennt die Probleme und Vorurteile, die man als Heimkind in Deutschland erlebt: "Ich weiß, dass wenn ich Schuhe anhatte, wo kein Logo drauf war, dass die anderen Kinder drüber geredet haben. Aber ich hab das nicht an mich rankommen lassen. Ich weiß aber, dass es da viele Kinder gibt, auch bei mir in dem Kinderheim früher, denen das nahegegangen ist, die die Betreuer gefragt habe, warum denn ich, warum kann ich nicht mehr haben …"
Als "das Heimkind" auf TikTok erfolgreich
Michael will kein Mitleid. Gerade macht er Abitur und will Jura studieren. Vor zwei Jahren startet er einen TikTok-Kanal, nennt sich dort "das Heimkind". Über eine halbe Million Follower hat er und verdient damit sogar Geld. Aber finanziell kam bald das böse Erwachen. Michael musste ein Viertel seines verdienten Geldes an das Jugendamt abgeben.
Kostenheranziehung hieß das im Amtsdeutsch. Wenige Jahre zuvor waren es sogar 75 Prozent, die Jugendliche ans Jugendamt abgeben mussten, wenn sie beispielsweise eine Lehre machten und dadurch Geld verdient haben. Für Michael war dies das genau falsche staatliche Signal für Kinder und Jugendliche, die sich engagieren und versuchen, sich aus eigener Kraft eine eigene Existenz aufzubauen.
Michael hat als "das Heimkind" über eine halbe Million Follower bei TikTok. Von dem verdienten Geld musste er ein Viertel an das Jugendamt abgeben.
Selten nur ein Geldproblem
Seit Januar 2023 ist diese Abgabe endlich abgeschafft worden. Betroffene wie Michael sind erleichtert, fordern aber mehr gezielte Maßnahmen für Kinder aus benachteiligten Familien, insbesondere im Bereich Bildung. Das Thema Kinderarmut betrifft in Deutschland jedes fünfte Kind. Im Berliner Bezirk Lichtenberg ist es jedes Dritte. Und Kinderarmut ist selten nur ein Geldproblem. Nahezu immer geht es auch um fehlende Teilhabe: kein Sportverein, kein Musikunterricht, keine Nachhilfe.
In der Grundschule am Wilhelmsberg in Berlin-Lichtenberg gibt es seit vier Monaten Gesundheitsfachkräfte, Schulkrankenschwestern sozusagen. Ein Pilotprojekt, dass es in Berlin nur hier gibt. Der Bezirk setzt auf Prävention und hofft, dass die Gesundheitsfachkräfte länger bleiben können, denn bisher ist das Geld lediglich bis Ende dieses Jahres bewilligt. Der große Vorteil dieser Maßnahme: Die Schulkrankenschwestern kümmern sich ganz konkret, und die Eltern müssen keine Formulare ausfüllen. Denn bisher ist es für sehr viele Familien unmöglich, sich durch die Formulare zu kämpfen. Der Kinderzuschlag für ärmere Familien zum Beispiel wird laut Bundesfamilienministerium nur zu 35 Prozent abgerufen.
Ein Aufstiegsversprechen, das nicht mehr gilt
Es gab in Deutschland mal das Aufstiegsversprechen: "Hier kann es jeder schaffen." Das gilt laut einer aktuellen Studie des ifo-Instituts, die diese Woche veröffentlicht wurde, aber kaum noch. Demnach ist die Bildung der Eltern der entscheidende Faktor dafür, ob ein Kind es auf das Gymnasium schafft. Studienleiter Ludger Wößmann fordert daher auch Maßnahmen, mit denen "wir als Gesellschaft die Kinder selbst in die Lage versetzen, später auf eigenen Beinen zu stehen".
Sechs Handlungsempfehlungen für die Politik nennt der Experte dafür: eine kostenlose Kita für alle Kinder, eine längere gemeinsame Grundschulzeit, finanzielle Zuschläge für Lehrkräfte an "schwierigen" Schulen und kostenlose und frühe Nachhilfe gehören dazu. Eltern sollten zudem gestärkt und unterstützt werden und Mentoren-Programme für benachteiligte Kinder durch Studierende entstehen.
Der familienpolitische Sprecher der FDP, Matthias Seestern-Pauly, bemängelt in der jetzigen Diskussion um die Kindergrundsicherung vor allem die Bürokratie für Familien in schwierigen Situationen. "Das Problem ist, dass die überwiegende Zahl der anspruchsberechtigten Kinder die Leistungen nicht erhalten, weil es zu kompliziert ist, wie viel zu viele Ämter involviert sind."
"Ein Geschacher um Milliarden"
Selbst die Linksfraktion, die sich ansonsten für mehr Geld in die Sozialsysteme einsetzt, kritisiert scharf, dass die Familienministerin die von ihr geforderten zwölf Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung nur schätzt und keinen inhaltlichen Plan zu haben scheint.
Fraktionschef Dietmar Bartsch glaubt nicht mehr daran, dass die Kindergrundsicherung in dieser Legislaturperiode noch kommen wird. "Ich glaube keine Sekunde, dass eine wirkliche Kindergrundsicherung - wie auch Frau Paus das vor Jahren wollte - noch realistisch ist. Das ist jetzt ein Geschacher um Milliarden und nicht der Anspruch, den dieses große reformpolitische Projekt haben sollte."
Wenn man Michael, das Heimkind und den erfolgreichen TikToker, fragt, welche Hilfe bei ärmeren Kindern wirklich ankommt, ist die Antwort deutlich: "Man müsste in die Schule investieren, in eine Institution, wo der Staat auch wirklich kontrollieren kann, was mit dem Geld passiert, das ich abgebe. Was in einer Familie, wo den Eltern das Geld einfach nur ausgezahlt wird, nicht der Fall ist." Daher müsse in den Schulen mehr gefördert werden und nicht einfach mehr Geld ausgezahlt werden, "was am Ende verbranntes Geld ist".