Olaf Scholz und Christian Lindner
analyse

Nach Urteil zum Haushalt Wenn das 60-Milliarden-Loch sprachlos macht

Stand: 24.11.2023 20:35 Uhr

Die Regierung steckt tief in der Haushaltskrise - und Minister Lindner und Kanzler Scholz belassen es zunächst bei kurzen Wortmeldungen, ohne drängende Fragen zu beantworten. Wie will die Ampel da wieder rauskommen?

Eine Analyse von Lothar Lenz, ARD-Hauptstadtstudio

Auch am neunten Tag nach dem wegweisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenpolitik der Bundesregierung sind die Folgen für die Haushalte von Bund und Ländern allenfalls in groben Zügen absehbar. Klar ist nur: Die öffentliche Hand wird eisern sparen müssen, wenn sie an ihren politischen Zielen festhalten und gleichzeitig die strengen fiskalischen Kriterien der Karlsruher Richterinnen und Richter erfüllen will.

Welche Konfusion die Entscheidung des obersten Gerichts unter den Regierenden ausgelöst hat - das wird auch an der bruchstückhaften Kommunikation der Ampelkoalition deutlich.

Knappe drei Minuten nahm sich der Kanzler am Freitagnachmittag in seiner Videobotschaft Zeit, auf die drängenden Fragen von Bürgerinnen und Bürgern einzugehen: Wie steht es jetzt um die Staatsfinanzen? Was bedeutet die Haushaltskrise für jeden Einzelnen? Konkrete Antworten blieb Olaf Scholz allerdings schuldig - er wiederholte nur die oft aufgerufenen Ziele der Bundesregierung, der Ukraine zu helfen, hohe Energiepreise zu deckeln, den sozialen Zusammenhalt im Land zu stärken, den Klimaschutz voranzubringen und das Land zu digitalisieren.

Wo genau die Bundesregierung sparen will oder muss, um das Zig-Milliarden-Loch nach der Karlsruher Entscheidung zu stopfen - diese Hinweise blieb der Kanzler seinem Publikum schuldig. Allenfalls seine Sorge um den sozialen Frieden innerhalb der Gesellschaft lässt sich als Replik deuten auf die zuletzt lauter gewordenen Forderungen aus der Union, aber auch vom eigenen Koalitionspartner FDP, den Rotstift bei der Sanierung des Haushalts auch bei den Sozialausgaben anzusetzen. Mehr war nicht herauszulesen aus dieser Kurzbotschaft zur Megakrise.

Lindner umschifft das Wort "Schuldenbremse"

Zumindest aber sprach der Kanzler mehr als doppelt so lange wie sein Finanzminister Christian Lindner, der sich am Vortag ganze 70 Sekunden Zeit nahm für seine dürre und wenig überraschende Erklärung, es werde nun einen Nachtragshaushalt für das laufende Jahr geben, vor allem um die aus dem Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds (WSF) der Bundesregierung bezahlten Strom- und Gaspreisbremsen für Verbraucher und Unternehmen auf verfassungsrechtlich sichere Beine zu stellen.

Sprich: Die Koalition will über den Nachtragshaushalt im Bundestag für 2023 noch eine wirtschaftliche Notlage erklären und über diesen Hebel die Schuldengrenze des Grundgesetzes aufheben. Dann könnte der Bund frische Kredite aufnehmen und die Energiehilfen daraus bestreiten. Mehr als eine Umbuchung ist das eigentlich nicht - denn auch der WSF besteht ja aus Kreditermächtigungen, also zusätzlichen Schulden. Nun aber sollen sie über den regulären Haushalt laufen - Karlsruhe will es so.

Bemerkenswert erschien den Beobachtern allerdings, dass Lindner in seinem kurzen Statement das Wort "Schuldenbremse" rhetorisch umschiffte - welch Wunder, denn die Einhaltung dieser Auflage des Grundgesetzes gehört zu seiner politischen DNA.

Schon im Bundestagswahlkampf 2021 hatte Lindner mit den zentralen Zusagen geworben, die Schuldenaufnahme des Bundes zu Lasten künftiger Generationen begrenzen zu wollen - und Steuererhöhungen auszuschließen. Ein Versprechen, dass der Bundesfinanzminister seit den Milliarden-Transaktionen in die Sondervermögen des Bundes allerdings ohnehin nun noch auf dem Papier einhalten konnte.

Lindner setzt Staatssekretär vor die Tür

Nicht mit dem Karlsruher Urteil ist diese Konsolidierungsabsicht des FDP-Chefs also gescheitert, sondern mit einem Koalitionsvertrag vor zwei Jahren, der die unterschiedlichen politischen Ziele der drei Ampelparteien mit geradezu üppig befüllten "Sondervermögen" - in Wahrheit also Verschuldungstöpfen - befriedigen sollte.

Diesen Freitag dann setzte Christian Lindner seinen Haushaltsstaatssekretär Werner Gatzer (SPD) vor die Tür - was man als äußeres Zeichen für einen Neuanfang im Bundesfinanzministerium deuten darf. Gatzer galt als einer der einflussreichsten politischen Beamten in Berlin, er diente schon unter den Bundesfinanzministern Peer Steinbrück (SPD), Wolfgang Schäuble (CDU) und Olaf Scholz (SPD). Mit der Entlassung will Lindner wohl das Signal setzen, dass eine sozialdemokratisch beeinflusste - also verschuldungsfreundliche - Denkweise in seinem Haus nun keinerlei Chance mehr hat: Kommunizieren kann man auch über Bande.

Ende einer Win-win-win-Situation

Wer nun das Karlsruher Urteil so interpretiert, dass damit die ambitionierten Klimaschutzziele der Grünen nicht mehr finanzierbar sein dürften und die Sparziele der FDP jetzt tatsächlich erfüllt werden, der betrachtet die Dinge nicht von allen drei Seiten.

Denn natürlich hatte der Geldsegen der Sondervermögen auch den Sanierungsdruck aus dem regulären Bundeshaushalt genommen. Und daran hatte namentlich die Kanzlerpartei SPD ein massives Interesse: Konnte sie so doch längst überfällige Sozialreformen, zum Beispiel bei der Rente, weiter vertagen, ja sogar mit der "Grundrente" von Sozialminister Hubertus Heil noch zusätzliche Leistungsversprechen ins System einbauen. Mehr als 100 Milliarden Euro schießt der Bundeshaushalt jährlich zur gesetzlichen Rente zu - kein anderer Posten im Etat hat auch nur annähernd dieses Gewicht. Es war also eine Win-win-win-Situation, in der die Parteispitzen von SPD, Grünen und FDP sich damals zu dem Buchungstrick entschlossen, nicht benötigte Corona-Gelder für das Aufgabengebiet Klimaschutz umzuwidmen.

Haushalte überall auf Kante genäht

Und die Union? Auch sie braucht ihre Zeit, um zu realisieren, was genau sie da mit der Klage in Karlsruhe losgetreten hat. "Ich hätte nie erwartet, wie weit die Entscheidung geht", sagte CDU-Partei- und Fraktionschef Friedrich Merz in der ARD-Sendung Maischberger - denn das Urteil betreffe ja nicht nur die aktuelle Bundesregierung und die gerade laufende Wahlperiode.

Wie wahr: Die Karlsruher Ansprüche an eine nachhaltige Haushaltspolitik machen das Regieren im Bund und in den Ländern auf absehbare Zeit schwerer. Denn Haushalte sind überall auf Kante genäht, und erst die Aufnahme neuer Schulden sichert auch ihnen oft einen Rest politischer Handlungsfähigkeit.

So haben auch unionsgeführte Länder wie Berlin, Nordrhein-Westfalen oder Hessen ihrerseits Sondervermögen ausgewiesen, um die zusätzlichen Lasten durch ihre Aufgaben beim Klimaschutz bezahlen zu können. Schon äußerte sich der Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner (CDU), kritisch zum Fortbestand der Schuldenbremse - seine eigenen finanziellen Nöte sind ihm augenscheinlich näher als die offizielle Linie der Bundespartei.

Viel zu erklären also für Bundeskanzler Olaf Scholz, der am Dienstag nächster Woche eine Regierungserklärung abgeben wird. Mit knapp drei Minuten Länge und vagen Zusagen wie bei seiner Videobotschaft wird er im Bundestag nicht auskommen. Und vor allem: Die Opposition wird die größte Haushaltskrise seit Bestehen der Bundesrepublik zur Abrechnung mit einer waidwunden Ampelkoalition nutzen. Denn das Urteil von Karlsruhe fordert nicht weniger als eine Zeitenwende in der Haushaltspolitik.

Ampel ringt um Lösung bei Haushaltskrise - Ruf nach Reform der Schuldenbremse

Sarah Frühauf, ARD Berlin , tagesschau, 24.11.2023 20:00 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 24. November 2023 um 20:00 Uhr.