Gerhart Baum zu Rechtsextremismus "Auch die Gleichgültigen sind eine Gefahr"
Auch der ehemalige Bundesinnenminister Baum beobachtet ein Erstarken von Rechtsextremismus, Intoleranz und Antisemitismus. Im Interview mit tagesschau24 beschreibt der FDP-Politiker aber auch ein Aufwachen - eines, das er für überfällig hält.
tagesschau 24: Sie sind 1932 geboren. Das heißt, Sie haben den Schrecken der Naziherrschaft als Kind erlebt. Was denken Sie, wenn Sie heute die AfD beobachten: Haben wir die Geschichte einfach vergessen?
Gerhart Baum: Ja, wir haben zu spät reagiert. Aber dass jetzt überhaupt reagiert worden ist in dieser Form, ist natürlich wunderbar. Das hätte längst geschehen müssen. Diese Entwicklung ist seit Langem sichtbar. Der Rechtsextremismus, die Intoleranz, der Antisemitismus ist eine Strömung, die immer stärker geworden ist in Deutschland. Und jetzt hat es diesen Knall gegeben mit diesem Geheimtreffen und jetzt sind die Politiker aufgewacht. Das hätte ich von ihnen schon viel früher erwartet, aber auch von der Bevölkerung.
Nun müssen wir dabei bleiben, am Ball bleiben - und wir dürfen nicht vergessen, die AfD in ihren Gefährdungen der Demokratie wirklich zu benennen. Und zum anderen müssen wir auch die Politik ändern. Es ist für mich unverständlich, dieser unglaubliche Vertrauensverlust, den die Politik, den die Institutionen unseres Staates erlitten haben. Dagegen muss gearbeitet werden. Wir müssen wieder Vertrauen aufbauen.
Es muss besser regiert werden, aber auch anders regiert werden, wahrhaftiger regiert werden. Wir müssen den Menschen sagen: Es kommt einiges auf euch zu. Und wir beschönigen die Lage nicht. Wir alle empfinden, dass wir uns in einer großen Krise befinden - weltweit.
Nun kommt noch etwas hinzu, das bisher nicht so deutlich geworden ist: Die AfD ist eine europafeindliche Partei. Die nächste Wahl ist eine Europawahl. Das Grundgesetz gibt uns vor, in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Die Europafreundlichkeit, die Verpflichtung, Europa zu entwickeln und Europa zu verteidigen als Freiheits- und Wertegemeinschaft steht im Grundgesetz. Es ist also eine weitere Grundgesetzverletzung, die hier auf dem Spiel steht.
Und dann ziehen diese Leute mit einer möglicherweise noch größeren Rechtsfraktion ins Europaparlament ein und demontieren diese europäische Gemeinschaft. Das muss ganz deutlich werden. Auch da liegen die Gefahren. Nicht der geringste Respekt vor der Europa-Orientierung des Grundgesetzes, die eine Integrationsverpflichtung ist, sagt das Bundesverfassungsgericht. Wir Deutschen haben eine Integrationsverpflichtung und das lehnt die AfD ab.
Gerhart Baum war von 1972 bis 1994 Mitglied des Deutschen Bundestags. Von 1978 bis 1982 übte er das Amt des Innenministers aus. Ab 1992 war Gerhart Baum für die UN tätig. Mit seiner Kanzlei baum reiter & collegen übernahm er als Rechtsanwalt die Vertretung von über 100 Opfern der Loveparade-Katastrophe von Duisburg.
"Eine Grundströmung in der deutschen Geschichte"
tagesschau24: Wir alle haben im Geschichtsunterricht gelernt, wohin Rechtsextremismus führen kann. Warum, glauben Sie, hat eine Partei wie die AfD dennoch einen solchen Zulauf? Immerhin steigen ja die Umfragezahlen nahezu überall.
Baum: Einmal wird man sagen können, da sind Protestwähler, die gar nicht wissen, was sie tun oder das ausblenden, dass sie Leute in Parlamente wählen, die ganz anders agieren, als sie wollen. Aber im Grunde müssen wir den Menschen sagen: Ihr seid wirklich in einem Land, das mit Rassismus eine Weltkatastrophe angerichtet hat, auf einem gefährlichen Weg. Ihr müsst euch besinnen, dass wir diese Demokratie nur dadurch aufgebaut haben, dass wir eine Erinnerungskultur aufgebaut haben, dass wir aus diesem moralischen Absturz herausgekommen sind, dass es um die deutsche Demokratie geht. Wir müssen sie überzeugen, dass sie die deutsche Demokratie des Grundgesetzes gefährden.
Das ist wahrscheinlich auch eine Grundströmung in der deutschen Geschichte - die völkische Arroganz. "Wir sind die Herrenrasse. Ein Volk, ein Reich, ein Führer", habe ich als Kind gelesen auf den Plakaten in Dresden.
Wir wollen nicht dieses Land, das der Gauland und Weidel wollen. Wir möchten diese Demokratie, wie wir sie entwickelt haben, jetzt verteidigen. Und das muss ein permanenter Prozess werden.
"Auch die Gleichgültigen sind eine Gefahr"
tagesschau24: Sie sprechen davon, dass die Wähler Protestwähler seien, die nicht wissen, was sie tun. Aber der Zuspruch für die AfD ist ja mehr und mehr auch in der Mitte der Gesellschaft, im sogenannten Bildungsbürgertum, zu beobachten. Wie gefährlich ist das, was dort passiert?
Baum: Das ist sehr gefährlich und unterschätzt worden. Der Rechtsextremismus ist ja nicht nur in der AfD sichtbar. Das ist der parlamentarische Arm dieser ganzen Bewegung. Es gibt aber eine Unterströmung, eine Strömung hin in rechtsextremistische Positionen und die hat Teile des Bürgertums erreicht.
Also das heißt, die Sicherheitsbehörden sagen seit Langem und auch die wissenschaftlichen Untersuchungen, Teile des Bürgertums radikalisieren sich. Und das Grundgesetz ist durch diese Radikalisierung in Gefahr. Und es ist in Gefahr, wenn wir es nicht verteidigen.
Auch die Gleichgültigen sind eine Gefahr für das Grundgesetz. Ich hatte immer wieder die Befürchtung, dass die Bindungswirkung des Grundgesetzes, also der besten Verfassung, die die Deutschen je hatten, nachlässt. Seit gestern bin ich etwas positiver, aber das muss anhalten.
"Wir müssen für die Demokratie weltweit kämpfen"
tagesschau24: Sind die Demonstrationen, an denen Hunderttausende in ganz Deutschland teilgenommen haben, ein Hoffnungsschimmer?
Baum: Ja, das ist absolut ein Hoffnungsschimmer. Und die jungen Leute, die sich geäußert haben, klingen sehr überzeugend. Sie haben begriffen, welcher Gefährdung unsere Republik ausgesetzt ist. Das macht mir Hoffnung. Ich war immer der Meinung, dass unsere Demokratie wirklich stark genug ist, um auch damit fertig zu werden.
Wir leben in einer Welt, in der Demokratien weltweit unter Druck geraten und in der die autoritären Staaten versuchen, die Demokratien und die freien Gesellschaften zu schwächen. Das ist an vielen Stellen der Welt erkennbar. Wir müssen für die Demokratie weltweit kämpfen, nicht nur bei uns.
Das Gespräch führte Romy Hiller für tagesschau24. Für die schriftliche Version wurde es gekürzt und redigiert.