Polizisten und Passanten gehen über den geschlossenen Magdeburger Weihnachtsmarkt.
interview

Anschlag in Magdeburg "Er wollte maximalen Schmerz bereiten"

Stand: 23.12.2024 13:33 Uhr

Beim Attentäter von Magdeburg lassen sich nach Ansicht von Gerichtspsychiater Reinhard Haller Vergleiche zum norwegischen Massenmörder Breivik ziehen. Es könne eine Persönlichkeitsstörung oder eine Wahnerkrankung vorliegen, sagte er auf tagesschau24.

tagesschau24: Sie sind auch Kriminalpsychologe, haben zum Beispiel den Sexualmörder Jack Unterweger, den Briefbomber Franz Fuchs und die Familie des Amokläufers von Winnenden begutachtet. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Informationen zum Täter von Magdeburg erfahren haben?

Reinhard Haller: Man kann natürlich keine Ferndiagnosen stellen, ohne die genauen Hintergründe in ihrer ganzen Ausbreitung zu kennen. Aber die Sprache des Verbrechens und auch der Vergleich mit ähnlich gelagerten Fällen lässt schon gewisse Schlussfolgerungen zu.

Ich habe mir zunächst gedacht, es stellt sich nun die Frage, was der Täter eigentlich wollte, was sein Motiv war. Und da, glaube ich, gibt es eine ganz klare Antwort. Er wollte der Gesellschaft maximalen Schmerz bereiten. Das ist häufig der Fall bei ähnlichen Attentätern.

Wenn es hier darum geht, dass man Kinder trifft, mutmaßlich, dass man an einem friedlichen Ort dieses Massaker anrichtet. In einer Zeit, in der wir emotional besonders zugänglich sind, kann man dieses Motiv unabhängig von der Störung, die bei ihm vorliegt, feststellen.

Von der Störung her gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder hat es sich um eine paranoide Persönlichkeitsstörung mit stark fanatischen Zügen gehandelt. Oder es war ein wahnkranker Mensch, jemand, der unter einer überwertigen Idee litt und sein Verhalten danach ausgerichtet hat. Das ist eine Frage, die wahrscheinlich schwierig zu lösen sein wird.

Ich kann mir auch gut vorstellen, dass es hier zwischen den Gutachtern unterschiedliche Meinungen gibt, wie es damals bei einem Vergleichsfall war, bei jenem des Anders Behring Breivik, der im Jahr 2011 in Norwegen 77 Menschen, darunter hauptsächlich Kinder, zu Tode gebracht hat.

Zur Person
Reinhard Haller ist Gerichtspsychiater, Kriminalpsychologe und Sachbuchautor aus Österreich. 1977 wurde er an der Universität Innsbruck promoviert. Seit 1983 ist er Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie Psychotherapeut. Als psychiatrischer Gutachter hat er unter anderem den Sexualmörder Jack Unterweger, den Briefbomber Franz Fuchs und die Familie des Amokläufers von Winnenden begutachtet. 1994 habilitierte er sich an der Universität Innsbruck. 2003 erfolgte seine Ernennung zum Universitätsprofessor.

Psychiater als Terrorist - "das habe ich ich noch nie erlebt"

tagesschau24: Einige sagen ja, es passt nicht ganz zusammen, einerseits selbst eine Migrationsbiografie zu haben, Flüchtlingen aus Saudi-Arabien zu helfen und andererseits rechts zu sein, also AfD- und "Nius"-Inhalte zu posten. Warum schließt das eine das andere nicht aus?

Haller: Bei diesem Fall ist vieles sehr verwunderlich und widersprüchlich. Unter anderem auch, dass er ja Psychiater war. Psychiater sind zwar manchmal auch Verbrecher, aber einen Psychiater als Terroristen habe ich noch nie erlebt und habe auch diesbezüglich nichts gefunden in der gesamten wissenschaftlichen Literatur.

Diese Verwunderlichkeit würde dafür sprechen, dass er doch an einer wahren Krankheit gelitten hat. Denn der Wahn entzieht sich jeder logischen Interpretation und kann eben mit ganz paradoxen Inhalten auftreten. Auch damit, dass ein aus dem islamischen Bereich stammender Mensch einen Hass auf die islamische Kultur entwickelt.

Was dagegen spricht, ist allerdings, dass er schon früher auffällig geworden ist. Er hat also damals schon aggressive - und ich glaube auch sadistische - Züge gezeigt. Das würde eher in die Richtung passen, dass es eine schwere Persönlichkeitsstörung ist, also keine psychische Krankheit. Etwas, was überdauernd vorliegt.

Gefährliche Wahnerkrankung

tagesschau24: Sie haben ja gesagt, eine Wahnkrankheit könnte der mögliche Grund sein, haben auch dabei erwähnt, dass er als Facharzt für Psychiatrie angestellt war. Es wird aber auch bezweifelt, ob er überhaupt Arzt war. Das wird jetzt geprüft. Wie kann es überhaupt dazu kommen, dass Menschen, egal welcher Profession, überhaupt zu Mördern werden?

Haller: Das hängt natürlich immer von verschiedenen Faktoren ab. Ich muss hier an dieser Stelle vielleicht gleich dazu sagen: Psychisch kranke Menschen sind in ihrer Gesamtheit nicht gefährlicher als die Durchschnittsbevölkerung. Es gibt allerdings eine Untergruppe, die ein sehr hohes Fremdtötungsrisiko aufweist. Das sind die Menschen mit einer Wahnerkrankung.

Warum ist das so? Weil Menschen, die unter einer wahnhaften Wirklichkeit leben, letztlich auch der wahnhaften Wehrlosigkeit ausgeliefert sind. Ihr Handeln wirkt dann ganz von dieser psychischen Erkrankung bestimmt. Sie können an sich auch gar nicht viel dagegen machen.

Problematisch ist, dass ein Mensch mit einer wahnhaften Störung sonst psychisch intakt ist. Also der ist nicht irgendwie vergesslich oder verwirrt wie ein Alzheimerpatient. Der ist nicht in einem Durcheinander lebend, wie es ein schizophrener Patient wäre, sondern er ist vollkommen geordnet.

Dadurch kann er auch eine derartige Tat planen und mit hoher Logistik durchführen. Das ist eben das Gefährliche, was man immer wieder bei solchen Attentätern findet. Der Vergleichsfall, der sich aufdrängt, ist jener des Anders Behring Breivik. Aber es hat auch in Deutschland schon entsprechende Fälle gegeben. Der bekannteste davon ist jener des Hauptlehrers Wagner, der im Jahr 1914 unter dem Einfluss einer Wahnerkrankung 13 Menschen zu Tode gebracht hat.

"Eine Form des Abwehrmechanismus"

tagesschau24: Wie kann es denn, abgesehen von einer Erkrankung, überhaupt zu einer Radikalisierung kommen? Also dass er jetzt als Ex-Moslem den Islam gehasst hat und Verschwörungsideologien gefolgt ist? Welche Faktoren spielen da eine Rolle?

Haller: Es gehört zum Wesen der fanatischen paranoiden Persönlichkeitsstörung, dass eine Idee überhand gewinnt und zentral wird im Leben dieses Menschen. Warum das so ist, kann man nicht wirklich schlüssig erklären. Die Psychoanalytiker würden wahrscheinlich sagen, es ist eine Form des Abwehrmechanismus, das heißt, er ist im Grunde doch noch in seiner islamischen Welt, in seiner islamischen Ideologie verhaftet.

Er will diese aber aus verschiedenen Gründen abwehren und schlägt deswegen seinen Hass ins Gegenteil um, überträgt also den Hass letztlich auf die hiesige Gesellschaft, die er möglicherweise aufrütteln wollte, aber die er möglicherweise auch einfach an ihrem empfindlichsten Punkt treffen wollte. Das ist ihm gelungen.

Zu der Besonderheit dieses Falls gehört ja auch noch, dass er als Psychiater tätig war. Auf jeden Fall hat er diese Rolle überzeugend gespielt. Das ist wirklich eine spannende Frage, weshalb man in einer Anstalt, die letztlich dem Maßnahmenvollzug dient, diese Störung nicht erkannt hat oder ob man sie erkannt hat. Diese Tätigkeit ist ja auch mit vielen Supervisionen verbunden. Er befindet sich ja dort unter Kollegen, die letztlich eine solche Störung, die sonst schwer zu erkennen ist, wahrscheinlich diagnostizieren müssen.

"Gefühl eines Retterwahns"

tagesschau24: Auch da läuft die Suche nach Antworten. Jetzt kam auch raus, dass es eine schriftliche Gefährderansprache gegeben haben soll. Sind diese in der Regel ein wirksames Werkzeug, um solche Taten zu verhindern?

Haller: An sich schon. Ich glaube, das Besondere an diesem Fall, aber nicht besonders im Vergleich mit ähnlich gelagerten Fällen ist, dass er Einzeltäter war. Wir müssen hier immer unterscheiden: Handelt es sich um einen Terroranschlag, der gewöhnlich einen ideologischen Hintergrund hat und in Gruppen passiert? Geht es um eine Amoktat, die meistens mit einem psychisch kranken Täter verbunden ist? Oder handelt es schlichtweg um ein Massaker?

Wenn ein Mensch als Einzeltäter handelt, also eher isoliert lebt, ist natürlich die große Gefahr gegeben, dass er nicht geerdet wird, dass er nicht heruntergeholt wird von seinen Ideen, sondern sich immer mehr und mehr versteigt und dann manchmal auch das Gefühl eines Retterwahns bekommt. Also dass er beispielsweise sagt: Ich muss, um meinen Auftrag zu erfüllen, die Gesellschaft durch eine derartig schreckliche Tat wachrütteln.

Die Ironie an der ganzen Geschichte liegt im übrigen darin, dass er bei Beginn der Tat schon damit rechnen musste, dass er dort landen wird, wo er beruflich über viele Jahre tätig war, nämlich im Maßregelvollzug. Ich glaube, das wird auf jeden Fall so sein, allerdings diesmal mit umgekehrten Rollen. Er ist jetzt nicht mehr der mächtige Therapeut, sondern er ist der eingelieferte Insasse.

"Eine immer wieder schmerzhafte Narbe"

tagesschau24: So weit zum Täter. Lassen Sie uns noch über die Betroffenen und Angehörigen der Opfer sprechen. Nicht nur die, sondern auch viele Menschen in Magdeburg und Deutschland müssen ja diese Tat emotional aufarbeiten, haben möglicherweise Angst vor Weihnachtsmärkten und Menschenansammlungen. Was ist denen zu raten?

Haller: Das ist wirklich ein unglaubliches Problem, ich glaube, es gibt hier keine wirkliche Lösung. Die Lösung, die wir alle anwenden könnten, ist Mitgefühl. Mitleid, Mithilfe. Ihnen beistehen, damit Sie nicht das Gefühl haben, allein in ihrer Trauer zu sein und ihnen Gelegenheit geben, möglichst viel darüber zu sprechen, wenn sie das wollen. Nur dadurch könnte dieser Schmerz wenigstens ein Stück weit abgebaut werden. Aber diese Wunde wird vielleicht verheilen, wenn es gut geht, im Laufe der Zeit. Aber es wird immer eine große und immer wieder schmerzhafte Narbe zurückbleiben.

Das Gespräch führte Damla Hekimoğlu, tagesschau24. Das Interview wurde für die schriftliche Fassung leicht redigiert.