Rede zum Holocaust-Gedenktag Reich-Ranicki erinnert an Verbrechen der Nazis
Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ist einer der letzten lebenden Zeitzeugen des Warschauer Ghettos. Im Bundestag schilderte der 91-Jährige anlässlich des Holocaust-Gedenktags, wie er das Terrorregime überlebte. Die Aussiedlung aus Warschau habe nur einen Zweck gehabt: den Tod.
Der Holocaust-Überlebende Marcel Reich-Ranicki hat im Bundestag an die Verbrechen der Nationalsozialisten erinnert. In einer ergreifenden Rede schilderte der 91-Jährige, wie er den Nazi-Terror überlebte. Zu der am 22. Juli 1942 begonnenen Deportation der Juden aus Warschau in das Vernichtungslager Treblinka sagte er: "Was die 'Umsiedlung' der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung - die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod."
Nicht als Historiker sei er gekommen, sondern als Zeitzeuge, sagte Reich-Ranicki. Er ist einer der letzten noch lebenden Gefangenen des Warschauer Ghettos. Sein Bruder und seine Eltern wurden von den Nazis ermordet. Er lernte im Warschauer Ghetto seine spätere Frau Teofila kennen. Die beiden heirateten am 22. Juli 1942 - genau an dem Tag, als Reich-Ranicki von den Nationalsozialisten gezwungen wurde, das Deportationsprotokoll der SS ins Polnische zu übersetzen. Gemeinsam gelang ihnen am Tag ihrer Deportation im Januar 1943 die Flucht.
Reich-Ranickis Schilderungen des Überlebenskampfs berührten die Mitglieder und Gäste im Bundestag. Nach der Rede herrschte minutenlange Stille im Plenarsaal, unterbrochen durch verhaltenen Beifall.
Lammert warnt vor Antisemitismus
Zu Beginn der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert, die jüngst aufgedeckte Mordserie von Neonazis verpflichte die Deutschen dazu, sich weiter mutig und engagiert gegen jegliche Form von Rechtsextremismus zu stellen. Der Holocaust ermahne dazu, dass alle Menschen frei und ohne Angst leben müssten.
Am Holocaust-Gedenktag wird weltweit der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Am 27. Januar 1945 waren die Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz befreit worden. Auschwitz steht symbolhaft für den Völkermord und die Millionen Menschen, die vom Nazi-Regime verfolgt und umgebracht wurden. Seit 1996 erinnert auch der Bundestag jährlich in einer Gedenkstunde an die Befreiung des Vernichtungslagers.
"Ein Tag für die Nachkommen"
Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, sagte, der Gedenktag sei vor allem ein Tag für die Nachkommen. Nicht die Opfer des Holocausts brauchten einen solchen Tag, sondern diejenigen, die dieses Leid nicht durchmachen mussten, sagte Kramer dem Radiosender NDRInfo. "Dabei müssen wir sicherstellen, dass dieses Gedenken nicht zu einem kalten Ritual verkümmert, sondern die Herzen der Menschen und der zukünftigen Generationen erreicht."