Bundesverfassungsgericht Was das Hartz-IV-Urteil bedeutet
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Die Hartz-IV-Sanktionen sind teilweise verfassungswidrig. Welche Auswirkungen hat das Urteil für Betroffene?
Von Frank Bräutigam, ARD-Rechtsexperte
Was hat das BVerfG entschieden?
Die Sanktionen gegenüber Hartz-IV-Empfängern sind teilweise verfassungswidrig. Die rote Linie des Urteils ist dabei ein "ja, aber". Ja, der Gesetzgeber darf von den Empfängern fordern, dass sie aktiv daran mitwirken, wieder einen Job zu bekommen. Ja, er darf auch Sanktionen aussprechen, wenn Betroffene das nicht tun. Weil es aber um das vom Grundgesetz geschützte Existenzminimum geht, also eine Frage der Menschenwürde, dürfen die Sanktionen nicht zu weit gehen. Das ist hier jedoch der Fall. Konkret sagt das Gericht: Kürzungen von 30 Prozent sind unter bestimmten Bedingungen in Ordnung. Kürzungen von 60 oder gar 100 Prozent aber ab sofort nicht mehr.
Wie lief das mit den Hartz-IV-Sanktionen bisher?
Der Regelsatz von Hartz IV liegt derzeit für einen alleinstehenden Arbeitssuchenden bei 424 Euro pro Monat. Hinzu kommt Geld für angemessenes Wohnen, Heizen und Zuschüsse zur Krankenversicherung. Im Gegenzug sind die Hartz-IV-Empfänger verpflichtet, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um ihre Hilfebedürftigkeit zu beenden.
Bei den Sanktionen gab es für über 25-Jährige mehrere Stufen. Verweigern Hartz-IV-Empfänger einen zumutbaren Job oder brechen eine Ausbildungsmaßnahme ab, werden drei Monate lang zwingend 30 Prozent des Regelsatzes gekürzt. Bei einem zweiten Regelverstoß innerhalb eines Jahres sind es 60 Prozent; beim dritten Mal sogar 100 Prozent. Zusätzlich werden in dieser Stufe auch die Gelder für Wohnen und Heizen und der Zuschuss zur Krankenversicherung nicht mehr gezahlt. Bei Kürzungen von mehr als 30 Prozent können die Arbeitssuchenden zumindest Lebensmittelmarken beantragen.
Was bemängelt das Gericht konkret?
Das Gericht sagt: Im Prinzip hat der Gesetzgeber einen Spielraum, wie er das menschenwürdige Existenzminimum für Bedürftige gewährleistet. Bei den Sanktionen geht es aber darum, dass das Existenzminimum noch einmal gekürzt wird. Wegen dieser besonderen Belastung für die Betroffenen sei der Spielraum in so einem Fall eingeschränkt. Zentrales Kriterium müsse außerdem sein, ob die Sanktionen ihr Ziel auch wirklich erreichen, die Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Daraus schließt das Gericht dann für die konkreten Stufen:
Eine Kürzung von 30 Prozent der Leistungen ist im Prinzip zulässig mit zwei Einschränkungen: Es muss möglich sein, dass die Behörden von dieser Sanktion absehen, wenn bei Betroffenen eine "außergewöhnliche Härte" (z.B. starke gesundheitliche Probleme) vorliegt. Und es ist auch nicht in Ordnung, dass die Kürzung immer erst nach drei Monaten endet. Wenn jemand nachträglich doch noch kooperiert, muss die Kürzung gestoppt werden können.
Kürzungen um 60 oder auch 100 Prozent seien aber nicht zumutbar. Hier betont das Gericht: Es sei nicht nachgewiesen, ob diese Sanktionen wirklich etwas bringen. Sie könnten sogar kontraproduktiv sein.
Richter Stephan Harbarth verkündete das Urteil des 1. Senats.
Was heißt das nun für den Gesetzgeber?
Der Gesetzgeber muss nun das "ob" und "wie" von Sanktionen neu regeln. Dabei muss er die Vorgaben aus Karlsruhe beachten, hat aber in diesem Rahmen durchaus einen Spielraum, wie er dieses Thema gestalten will. Eine Frist für eine Neuregelung hat das Gericht nicht gesetzt. Allerdings hat es ausdrücklich eine Übergangsregelung angeordnet.
Was gilt für Betroffene von Sanktionen bis zu einem neuen Gesetz?
Das Gericht hat eine Übergangsregelung getroffen, die ab sofort bis zu einem neuen Gesetz gilt. Für neue Fälle sind Sanktionen von 60 oder 100 Prozent nicht zulässig. Kürzungen von 30 Prozent sind möglich. Liegt eine "außergewöhnliche Härte" vor, muss aber nicht zwingend eine Sanktion verhängt werden. Auch muss eine kürzere Dauer als drei Monate möglich sein.
Wichtig ist die Übergangsregelung auch für Menschen, die bereits einen Bescheid über Kürzungen von 60 oder 100 Prozent erhalten und sich dagegen gewehrt haben. Der Bescheid ist "nicht bestandskräftig". In diesen Fällen müssen die Behörden die Kürzung der Leistung von sich aus mit Wirkung für die Zukunft auf 30 Prozent reduzieren, sagt das Urteil. Von einer Rückerstattung ist in der Entscheidung nicht die Rede.
Auf welche Sanktionen bezieht sich das Urteil nicht?
Wichtig ist, dass sich das Urteil nicht auf den gesamten Komplex der Hartz-IV-Sanktionen bezieht. Das BVerfG hat nur die Sanktionen für über 25-jährige Erwerbslose geprüft und beanstandet. Es ist jedoch denkbar, dass dieser Bereich in einem neuen Gesetz ebenfalls neu geregelt wird. Auch die Kürzungen von zehn Prozent, wenn Hartz-IV-Empfänger einen Termin beim Jobcenter versäumt haben, lagen dem Gericht nicht zur Prüfung vor. Sie sind daher weiterhin möglich.
Wie oft gibt es Sanktionen?
Pro Monat waren im Jahr 2018 durchschnittlich 3,2 Prozent der Hartz-IV-Empfänger mit Sanktionen belegt. 904.000 Sanktionen gab es insgesamt, 77 Prozent davon wegen Terminversäumnissen. Bei einem knappen Viertel ging es um die schwereren Sanktionen ab 30 Prozent aufwärts.