Umfragehoch bei den Grünen "Die Kurve zeigt langfristig nach oben"
Um die 20 Prozent erreichen die Grünen derzeit. Ein Höhenflug, der von Dauer sein könnte, meint Meinungsforscher Siegel im tagesschau.de-Interview. Denn die Lage sei diesmal anders als nach Fukushima.
tagesschau.de: Die Grünen klettern seit Anfang letzten Jahres in ihren Umfragewerten stetig nach oben und liegen derzeit um die 20 Prozent. Wie bewerten Sie diesen Trend?
Nico Siegel: Sie profitieren neben der eigenen Geschlossenheit - und der Stärke bei wichtigen Zukunftsthemen - auch von der Schwäche von Union und SPD. Wenn es wie zuletzt wie bei der Union in Folge der Diskussion um die Nachfolge von Angela Merkel als CDU-Parteivorsitzende wieder leicht bergauf geht, dann geht dies zumindest auch teilweise auf Kosten der Grünen. Aber das sind eher kurzfristige Effekte.
"Grüne punkten bei Zukunftsthemen"
tagesschau.de: Sie schätzen den Aufwärtstrend also als relativ stabil ein?
Siegel: Stabil ist relativ. Wie dauerhaft solche Stimmungen sind, ist unmöglich zu vorherzusehen. Allerdings sprechen derzeit mehr Argumente gegen einen steilen Abfall bei den Grünen, zumindest solange die Führungsmannschaft nach außen geschlossen auftritt und die Grünen weiterhin bei den Wählern bei wichtigen Zukunftsthemen besser punkten als die Parteien der Großen Koalition.
tagesschau.de: Das letzte Mal hatten die Grünen Umfragewerte in dieser Größenordnung nach Fukushima, die waren aber nicht von Dauer. Was ist diesmal anders?
Siegel: Wir beobachten eher einen längerfristig verlaufenden Anstieg, bei allen Schwankungen um die Trendlinien. Bei Fukushima ging es aufgrund eines singulären Ereignisses punktuell stark nach oben. So ein anlassbezogener Ausschlag nach oben, verpufft dann zumindest weitgehend wieder. Es gab häufiger Phasen bei den Grünen, in denen es nach oben ging und dann auch wieder nach unten. Aber schaut man sich den langen Trend an, zeigt die Kurve eher nach oben - und das ist eben der große Unterschied zu den klassischen Volksparteien, insbesondere auch zur SPD.
Am Dienstag will die Parteiführung - um die beiden Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck - dann über die Urnengänge in Brandenburg, Sachsen und Thüringen beraten. Sie stehen im September und Oktober an. Zwar erleben die Grünen derzeit im Bund ein Hoch in dem Umfragen. Der Partei werden demnach rund 20 Prozent zugetraut. Im Osten erreicht sie aber traditionell deutlich schlechtere Werte. Angesichts der Stärke der AfD gerade im Osten wollen sich die Grünen dort nun als Partei des gesellschaftlichen Zusammenhalts präsentieren.
"Zustimmung zunehmend bei bürgerlicher Mitte"
tagesschau.de: Worin sehen Sie die Gründe für diesen stetigen Anstieg?
Siegel: Neben den Streitigkeiten der Regierungsparteien im Bund, wovon natürlich die Opposition profitierte, sind es die Themen: Ein wachsender Anteil von Wählern hat den Eindruck, die Grünen vertreten wichtige zukunftspolitische Anliegen. Die Grünen haben sich ihren Markenkern erhalten, also die Umwelt- und Klimapolitik und die damit verbundenen Fragen der Energie- und Verkehrspolitik. Und sie haben innerhalb der neuen politisch-kulturellen Konfliktlinie die Gegenposition zur AfD eingenommen. Das heißt, sie stehen für eine liberale, offene Politik, die Zuwanderung vielleicht auch quantitativ begrenzen will, aber grundsätzlich für ein offenes, tolerantes und einwanderungsfreundliches Deutschland wirbt.
Und: Mittlerweile passt auf sie eher das Image einer "Gebots"- und nicht einer "Verbotspartei": sie benennt mehr positive Politikziele und weniger "fundamentale Dagegen-Positionen" als in der Vergangenheit. Damit erreicht die Partei auch Teile der bürgerlichen Mitte und die klassischen Wählermilieus von Union und SPD, aber sie bindet auch nach wie vor ziemlich erfolgreich die eigene progressiv-liberale Kernklientel.
"Warten mit frischem Führungspersonal auf"
tagesschau.de: Aber wie stark ist dieser Markenkern noch, wenn man bedenkt, in welch unterschiedlichen Konstellationen die Grünen in den Ländern regieren?
Siegel: Natürlich kann man sagen, dass der Markenkern bei Regierungsbeteiligung immer strapaziert wird, das gilt nicht nur für die Grünen. Sobald ich in eine Regierung eintrete, muss ich bereit sein, Kompromisse einzugehen, um mit Koalitionspartnern gemeinsam etwas auf den Weg zu bringen. Aber das heißt noch nicht, dass man deswegen seinen Markenkern komplett aufgibt.
tagesschau.de: Welche Gründe für den Erfolg gibt es jenseits der Themen?
Siegel: Der zweite wesentliche Faktor ist, dass sie mit einem frischen Führungspersonal auf Bundesebene aufwarten. Für Grünenwähler sind die Themen zwar immer wichtiger als die Personen. Aber es schadet natürlich nicht, wenn sie mit Annalena Baerbock und Robert Habeck zwei Gesichter haben, die sich positiv von vielen schon lange in den Ämtern befindlichen Gesichtern bei SPD und Union unterscheiden. Wie lange so etwas anhält, hängt von vielen Faktoren ab.
"Neue Bundesländer sind Herausforderung"
tagesschau.de: Welche Schwierigkeiten könnten auf die Grünen im neuen Jahr zukommen? Es wird ja in drei neuen Bundesländern gewählt, die klassisch kein Grünen-Terrain sind.
Siegel: Ich würde da eher von Herausforderungen sprechen. In Brandenburg, Sachsen und Thüringen, wo in diesem Jahr Wahlen stattfinden, tun sich die Grünen in der Tat schwerer als anderswo. Aber es ist auch keine Diaspora, immerhin sind sie in allen drei Landtagen vertreten, in Sachsen übrigens seit 2004 ununterbrochen.
Es waren in der Vergangenheit zwar immer wieder Zitterpartien, ob es die Grünen bei den Landtagswahlen in den drei Bundesländern über die 5-Prozent-Hürde schaffen würden. Stabilisieren sich die derzeitigen Umfragewerte, sieht es aber wohl eher danach aus, dass die Grünen wieder in die drei Landtage einziehen können. Und vor den drei Landtagswahlen im Herbst findet im Mai ja die Wahl zum Europäischen Parlament statt und da haben die Grünen durchaus gute Chance auf ein erfreuliches Wahlergebnis.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.