100 Tage GroKo Ein "Virus der Unzufriedenheit" grassiert
Was hat die GroKo bislang erreicht? Der Wahlforscher Siegel zieht im tagesschau-Interview eine düstere Bilanz: Streitereien übertönen die Erfolge, die Regierung droht, sich selbst zu sprengen und zurück bleibt ein frustrierter Wähler.
tagesschau: 100-Tage-Bilanzen sind normalerweise Formsache. Die nächste Wahl ist weit weg, die Regierung kann sich noch einmal richtig auf die Arbeit konzentrieren. Jetzt aber ist ein massiver Streit in der Union über die richtige Asylpolitik ausgebrochen. Wie kommt denn dieser Streit bei den Wählern an?
Nico A. Siegel: Solche heftigen Auseinandersetzungen - zumal zwischen befreundeten Parteien, die auch eine Fraktionsgemeinschaft im Deutschen Bundestag bilden - , kommen bei Wählerinnen und Wählern überhaupt nicht gut an. Da rücken dann auch die sachpolitischen Differenzen ein Stück weit in den Hintergrund. Die Wählerinnen und Wähler fragen sich natürlich auch: Sind es vor allem Machtkalkül-Fragen, die da im Moment die Heftigkeit der Auseinandersetzung verursachen? Oder um was geht es eigentlich wirklich? Derzeit sind weniger als 40 Prozent der Menschen in diesem Land mit der Arbeit der Bundesregierung zufrieden. Das ist ein ziemlich niedriger Wert.
tagesschau: Bundeskanzlerin Merkel und Innenminister Seehofer sind die Kontrahenten in diesem Streit. Für wen haben die Menschen im Moment mehr Verständnis?
Siegel: Den Begriff Verständnis würde ich an dieser Stelle nicht verwenden. Wenn man einfach mal schaut - wir haben diese Woche gefragt: Wie werden denn die unterschiedlichen Positionen zur Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik bewertet? - dann ist das ziemlich pari. Es waren ungefähr vierzig Prozent jeweils für die Position von Horst Seehofer und 40 Prozent für diejenige von Angela Merkel, also sozusagen ein Unentschieden.
Was aber viel wichtiger erscheint, ist, dass da so eine Art Virus der Unzufriedenheit grassiert. Wenn wir die Bewertung der einzelnen Politiker anschauen, stellen wir fest, dass gerade noch Angela Merkel auf 50 Prozent Zufriedenheitswert in der Bevölkerung kommt. Das ist relativ mager. Keiner der zehn wichtigsten Politiker in Deutschland kommt derzeit über 50 Prozent Zufriedenheit. Insofern hat diese Auseinandersetzung im Moment auch das Potenzial, zumindest ein Virus der Unzufriedenheit breit zu streuen, von dem dann im Endeffekt keiner profitiert.
tagesschau: Es geht für die CSU jetzt auch um die Landtagswahl in Bayern. Kommt die Haltung der Partei im Streit mit der Schwesterpartei bei den Wählern in Bayern gut an?
Siegel: Das können wir nicht sagen, weil keine aktuellen Daten haben. Zuletzt lag die CSU bei gut 40 Prozent - das ist nicht unbedingt das, was sich wahrscheinlich Markus Söder als Ergebnis für die Wahl im Oktober vorstellt. Und wichtig für die CSU ist natürlich die strategische Frage: Soll sie diesen Konflikt weiter befeuern? Das hat das Potenzial, Wählerinnen und Wähler am rechten Spektrum eher anzusprechen. Die AfD hat bei der Bundestagswahl in Bayern über 12 Prozent der Zweitstimmen gewonnen. Derzeit sehen wir die AfD aber auch bei zwölf Prozent in Bayern. Und noch jedenfalls zahlt sich die CSU-Strategie bei der Sonntagsfrage nicht aus. Das kann sich im Lauf des Sommers noch ändern.
Die Frage wird sein: Wenn die CSU diesen heftigen Streit, der ja im Prinzip auch das Potenzial hat, die ganze Bundesregierung zu sprengen, weiterhin so anfeuert: Hilft es ihr bei der Landtagswahl oder hilft es vor allem der AfD, ihre Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren? Weil natürlich das Thema Flüchtlinge und Zuwanderung ganz klar im Vordergrund steht.
Es gibt viele andere Themen, die in Bayern wichtig wären - nicht zuletzt auch die positiven Themen: niedrige Arbeitslosigkeit, hohe Wirtschaftskraft, Investitionen, das Thema Digitalisierung. Das alles rückt jetzt aber so ein Stück weit in den Hintergrund und die Bundesregierung hat durchaus auch schon Gesetze erlassen. Viele werden diese Gesetze auch für gut empfinden. Aber das alles wird durch diesen sehr heftigen Streit innerhalb der Union im Moment in den Hintergrund gerückt. Und das ist potentiell sehr gefährlich für die Union, aber auch für die Bundesregierung insgesamt.
tagesschau: Sie sagen es: Flüchtlinge sind letzten Endes nur ein Thema. Welche Themen bewegen denn die Wähler seit Antritt der Großen Koalition ganz besonders?
Siegel: Da gibt es eine relativ hohe Stabilität. Es sind Themen wie Bildung, wie Infrastruktur, natürlich auch die außenpolitischen Themen: Stichwort Donald Trump und seine Politik, wie er den Multilateralismus beenden möchte. Das bewegt die Menschen sehr, aber im Moment ist man eben ganz unabhängig von dem, was die Wähler bewegt. Und da sehe ich auch die Gefahr dieser Inszenierung, dieses permanenten Streits in einem Ausmaß, wie wir es in der Geschichte der Bundesrepublik zwischen CDU und CSU allerhöchstens einmal in den 1970er-Jahren gesehen haben. Das ist so stark im Vordergrund, dass alles andere nach hinten gedrängt wird. Und das ist potenziell gefährlich für beide großen Volksparteien.
Wir haben erst heute eine Umfrage veröffentlicht für Rheinland-Pfalz mit deutlichen krassen Verlusten für die SPD, die im Moment so ein bisschen der Stabilitätsanker in der Koalition auf Bundesebene ist. Im Moment profitieren bei den Umfragen vor allem die AfD, aber auch die Grünen im Vergleich zu den Ergebnissen bei der Bundestagswahl vom September.
tagesschau: Nun mussten sich SPD und Union für diese GroKo zum gemeinsamen Regieren zwingen, nachdem Jamaika nicht zustande gekommen war. Manche sprachen da ja schon von einer "Koalition der Wahlverlierer". Inwiefern spielt das eine Rolle für die Wahrnehmung dieser Regierung, insbesondere jetzt im Vergleich zur letzten großen Koalition 2013?
Siegel: Das macht es natürlich schwieriger. Es ist auf alle Fälle faktisch eine Koalition der beiden großen Wahlverlierer, die ja auch im Vorfeld der Bundestagswahl gesagt hatten, sie möchten diese Koalition nicht weiter fortführen. Und das ist natürlich bei der ganzen Frage der Glaubwürdigkeit - Wie lange planen eigentlich diese Parteien, diese Regierung aufrechtzuerhalten? - eigentlich schon mit eingepreist, dass es sich um eine Art Totgeburt handelt.
Alles, was beim Wähler dafür sorgt, dass nicht wirklich die Lösung sachpolitischer Themen im Vordergrund steht, sondern dass es vor allem um machtpolitische, parteipolitische Auseinandersetzungen geht, wirkt sich negativ auf die Glaubwürdigkeit und auf das Vertrauen in die etablierten Großparteien aus. Den Preis haben Sie ja zum Teil auch schon bei der Bundestagswahl an den Wahlurnen bezahlt. Wenn es so weitergeht wie in den letzten Wochen, dann ist allerdings das Risiko noch einmal deutlich größer, als es schon im September letzten Jahres war.
Das Interview führte Tarek Youzbachi, tagesschau24