Tag des Mauerbaus Als ein ganzes Dorf weichen musste
Mit dem Mauerbau 1961 verschwand nach und nach der kleine Ort Osdorf. Häuser wurden abgerissen, die rund 150 Einwohnerinnen und Einwohner umgesiedelt. Wie wird heute daran erinnert?
Mitten in Heinersdorf, einem Ortsteil der brandenburgischen Gemeinde Großbeeren, stehen auf einem großen Platz originale Reste der Berliner Mauer. Eine Tafel erinnert daran, wie sie dorthin gekommen sind. Denn eigentlich stand dieser Teil der Mauer am Rand des benachbarten Osdorf.
Es war kurz nach dem Mauerfall, da wusste Bürgermeister Karl-Heinz Valentin schnell: Wenn er sich nicht um die Osdorfer Mauer kümmert, lassen Souvenirjäger womöglich nicht viel übrig. Deshalb sorgte er dafür, dass sie abgebaut und in Heinersdorf aufgestellt wird. Damit keiner vergisst, dass es einst das Dorf Osdorf gab und es wegen der deutschen Teilung abgerissen wurde.
Der Ort, dessen Existenz so jäh endete, hat eine lange Geschichte. Er wurde schon im 14. Jahrhundert erwähnt, ein bäuerliches Dorf mit einem Gut, deren Besitzer häufig wechselten. Bis zuletzt hatten die Bewohner Vieh und Stallungen und eine aktive Dorfgemeinschaft. Es klingt nach einem idyllischen ländlichen Leben.
In den 50ern wurde es immer beengter
Michael Valentin, Jahrgang 1979, ist der Sohn des bereits verstorbenen Bürgermeisters, der einst die Mauerreste gerettet hatte. Er berichtet von den Erinnerungen seiner Eltern - vor allem seiner Mutter Irma Valentin, einer ehemaligen Osdorferin.
Ab 1952 habe es schon einen Zaun nach West-Berlin gegeben, immer mehr DDR-Grenzsoldaten hielten sich in und um Osdorf herum auf. Die deutsch-deutsche Teilung manifestierte sich. Mit der S-Bahn mussten große Umwege gefahren werden, ein Schulbesuch im Westen war nicht mehr möglich.
Bald wurden in Osdorf und Umgebung weitere Zäune errichtet. Die Grenzanlagen brauchten mehr Platz. Die Frage: Bleiben oder ganz in den Westen gehen? stellte sich auch den Anwohnern.
Michael Valentin erinnert sich an die Geschichte eines Traktorfahrers. Er hatte die Aufgabe, mit einem Schneeschieber den Boden für weitere Grenzanlagen zu ebnen. Das war noch vor dem Mauerbau. Ein Westberliner Postauto, das gerade unterwegs war, blieb stehen, der Fahrer wollte sich Ganze offenbar mal ansehen. Der Treckerfahrer sah darin offenbar die Chance seines Lebens: Er verließ den Traktor und stieg in das Postauto, das sich dann beeilte, weg von der Grenze zu kommen, bevor es Ärger mit den DDR-Grenzsoldaten gab.
Etwas Spannung hing ohnehin in der Luft: ein US-amerikanischer Truppenübungsplatz lag in der Nähe.
Osdorf wird Sperrgebiet - das Dorf leert sich
Nach dem Bau der Mauer 1961 wurde das Leben im Dorf rund 500 Meter von der Grenze zu West-Berlin sehr mühselig, erinnert sich die Mutter von Michael Valentin. Wenn sie zum Beispiel ein Familienfest veranstaltete, brauchte jeder einen Passierschein. Osdorf wurde Sperrgebiet.
Die Bewohner hatten spezielle Ausweise. Das Einfahren der Ernte wurde streng überwacht. Zudem wurde in dem Ort nicht mehr investiert, die Gebäude zerfielen. Immer klarer wurde: Die 150 Einwohner stören bei der Kontrolle der Grenzanlagen.
Im zwei Kilometer benachbarten Heinersdorf wurden Neubaublöcke für die Osdorfer errichtet. Die hatten richtige Badezimmer - in Osdorf gab es noch Plumpsklos. Und der Druck wuchs auf die verbliebenen 150 Einwohner, ihr Dorf zu verlassen.
1968 begann die Umsiedlung. Manche mit zogen mit Pferd und Wagen um, andere schon mit Traktor. 1970 war der Ort menschenleer, die Häuser waren abgerissen. Nur die Gutsscheune blieb stehen. Sie wurde weiter genutzt als Speicher für Getreide. Der Friedhof wurde ebenfalls geräumt. Es war das Ende von Osdorf.
Teil der Erinnerungskultur
Wie eine Heimatvertriebe habe sich seine Mutter am Anfang gefühlt, erzählt Michael Valentin. Aber auch, dass sich die Osdorfer in Heinersdorf offenbar schnell eingelebt haben. Vielleicht, weil Heinersdorf nur zwei Kilometer vom alten Heimatdorf entfernt war, vermutet Tobias Borstel, Bürgermeister von Großbeeren.
Der Abriss habe zwar keine dauerhaften Wunden hinterlassen, sagt er. Aber jedes Jahr bei der Gedenkfeier an den Osdorfer Mauerresten, "da wird es dann sehr still". "Es hat ohnehin Jahre gedauert, bis das Gedenken so richtig Fuß fassen konnte", sagt Borstel.
Dass Brandenburgs zentrale Mauerbau-Gedenkfeier in Heinersdorf stattfindet, freut ihn sehr. "Wenn der Ministerpräsident und Abgeordnete zu uns kommen, zeigt das, wie wichtig Erinnerungskultur ist. Wir sind dafür sehr dankbar."
Von Osdorf selbst ist fast nichts geblieben. Über den alten Ruinen wächst Wald, es gibt eine Osdorfer Straße, einen Osdorfer Ring, Gedenktafeln, die Mauerreste und die ehemalige Gutsscheune. Weil nur noch wenige Osdorferinnen und Osdorfer leben, wird nun neu über das Erinnern nachgedacht. Michael Valentin erwägt eine Ausstellung mit alten Fotos und Zeichnungen, um den Ort in der Erinnerung zu verankern, den es nicht mehr gibt.