Missbrauch im Erzbistum Freiburg Mehr als 250 Priester könnten Täter sein
Das Erzbistum Freiburg hat seinen Bericht zu sexuellem Missbrauch vorgelegt. Die Kommission geht von mehr als 250 Priestern als möglichen Tätern aus. Schwer belastet wird auch der frühere Erzbischof Zollitsch.
Im Erzbistum Freiburg sind mehr Menschen von sexualisierter Gewalt durch Geistliche betroffen als bisher offiziell bekannt. Es werde nun von über 540 Betroffenen ausgegangen, sagte der Vorsitzende der Aufarbeitungskommission, Magnus Striet. Zudem gebe es mehr als 250 beschuldigte Kleriker. Die Zahlen müssten jedoch mit Vorsicht betrachtet werden - das Dunkelfeld sei vermutlich erheblich größer.
Anlass für Striets Äußerungen war die Vorlage des Berichts über sexuellen Missbrauch im Erzbistum. Auf 600 Seiten analysiert dieser anhand von mehr als 20 Fällen, wie die Kirchenverantwortlichen mit Opfern und Tätern umgingen, und welche Strukturen Missbrauch begünstigten.
Die sogenannte AG Aktenanalyse mit vier externen Fachleuten aus Justiz und Kriminalpolizei arbeitet seit 2019, sie wertete etwa 1000 Protokolle der diözesanen Leitungsrunde aus und führte insgesamt mehr als 400 Befragungen durch.
Systematische Vertuschung unter Saier
Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen vor allem der verstorbene Erzbischof Oskar Saier und der noch lebende emeritierte Erzbischof Robert Zollitsch, der von 2008 bis 2014 auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz war.
Bei beiden gebe es Hinweise auf Vertuschungen. So seien Pfarrer unverzüglich beurlaubt worden oder hätten plötzlich auf Pfarreien verzichtet - Gründe für diese personellen Veränderungen seien vermutlich bewusst nicht festgehalten worden.
"Wenn ein Priester hochgradig finanzielle Probleme hatte, wurde das schriftlich festgehalten", erklärte der Jurist Eugen Endress, Mitglied der AG. "Beim Missbrauch war der Kuli dann plötzlich leer." Auch zur Ruhe gesetzte Priester seien unter Saier häufig weiter pastoral tätig gewesen - ohne dass der Erzbischof Vorkehrungen zum Schutz der Gemeinde getroffen hätte.
Zudem sprach Endress bei der Pressekonferenz von einer "antizipierten Vertuschungsaktion". Der Erzbischof habe es völlig verweigert, mit Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten. Es habe bei dem Umgang mit der Dokumentation ein "einvernehmliches Zusammenwirken" zwischen dem damaligen Personalreferenten Zollitsch und Erzbischof Saier gegeben.
Der emeritierte Erzbischof Zollitsch will sich zu der Studie nicht äußern.
Zollitsch soll das Kirchenrecht komplett ignoriert haben
Nach seiner Dienstzeit als Personalreferent stieg Zollitsch zum Erzbischof auf. Während seiner Amtszeit von 2003 bis 2013 habe Zollitsch das kanonische Recht - also das Kirchenrecht - im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen komplett ignoriert, sagte der Jurist Endress. Bei Zollitsch habe "eine vollständige Ignoranz" vorgelegen. Es liege "das Vollbild einer Vertuschung" vor. "Die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Eltern schienen für ihn gar nicht existiert zu haben", erklärte der Mitautor des Berichts. "Er meinte offenbar, dass sein Verhalten das einzig Richtige gewesen sei - zum Schutz der Kirche."
Zollitsch habe als Erzbischof nicht mehr wie früher vertuschen können, weil sich inzwischen erste innerkirchliche Strukturen zum Umgang mit Tätern und Opfern entwickelt hätten, so die Autoren. Endress zeigte sich fassungslos, dass Zollitsch einvernehmliche sexuelle Verhältnisse von Priestern mit erwachsenen Frauen schlimmer bewertet habe als den Missbrauch von Kindern. "Wir waren sprachlos."
Persönliche Erklärung von Zollitsch
Gegen Zollitsch hatte die Staatsanwaltschaft Konstanz 2010 wegen des Vorwurfs der Mitwisserschaft in einem Missbrauchsfall im Erzbistum ermittelt. Er veröffentlichte im vergangenen Herbst eine persönliche Erklärung zum Umgang mit sexualisierter Gewalt. Sie trägt den Titel "Ich bekenne mich ausdrücklich zu meiner Schuld". Er habe schwerwiegende Fehler als Personalreferent und später als Erzbischof begangen, so Zollitsch.
"Diese Selbsteinschätzung ist rundherum zutreffend", fasste es Endress zusammen. Allerdings sei auffällig, dass Zollitsch häufig von "wir" spricht, seiner persönlichen Verantwortung werde er dadurch nicht gerecht. Der emeritierte Erzbischof habe oft autonom gehandelt und andere Führungspersonen selten um Rat gefragt.
Zollitsch hatte gestern in einer Presseerklärung mitgeteilt, er werde sich zu dem heutigen Bericht nicht äußern.
Erzbischof Burger: "Bitte die Betroffenen um Verzeihung"
Auch der heutige Freiburger Erzbischof Stephan Burger räumte eigene Fehler ein. "Dass ich Fehler begangen habe, steht für mich außer Frage", sagte der 60-Jährige während der Pressekonferenz. So seien Auflagen für beschuldigte Priester nicht konsequent genug kontrolliert worden. "Als Erzbischof bitte ich die Betroffenen um Verzeihung."
Burger war von September 2007 bis Juni 2014 Offizial - also Kirchengerichtsleiter - der Erzdiözese Freiburg. Über mögliche kirchenrechtliche Konsequenzen für den 84-jährigen Zollitsch müsse nun der Heilige Stuhl im Rom entscheiden, sagte Burger.
Betroffenenbeirat: "Herzloses" und "kaltblütiges" Handeln
Betroffene des Missbrauchs zeigten sich schockiert über die Ergebnisse des Berichts im Erzbistum Freiburg. Die Untersuchung dokumentiere schwarz auf weiß, dass der Kirche "missbrauchte Kinder und verletzte Kinderseelen über Jahrzehnte gleichgültig waren", heißt es in einer ersten Stellungnahme des Betroffenenbeirats im Erzbistum. Dagegen seien die Täter grausamster Verbrechen geschützt worden.
Aus Sicht der Betroffenen belastet die Studie vor allem Zollitsch. Unter seiner Führung sei die Kirche ein "Schutzraum für Täter" gewesen und eine "Hölle für Kinder, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren und keine Hilfe erhalten haben".
Die Betroffenen werfen der Führungsebene im Erzbistum jahrzehntelanges, herzloses und kaltblütiges Handeln vor. "Bis in das Jahr 2014 scheint im Ordinariat eine menschlich nicht nachvollziehbare Kälte und Gleichgültigkeit gegenüber Missbrauchsvorwürfen und vor allem gegenüber Betroffenen geherrscht zu haben", erklärte der Beirat.