System der Fallpauschalen Warum Kinderärzte Alarm schlagen
Rund 150 schniefende und hustende Kinder pro Tag - der Ausnahmezustand ist für viele Kinderarztpraxen fast schon Alltag. Die Zahl der Patienten steigt, die Höhe des Budgets nicht. Wie kann das sein?
"Wir können Ihnen leider keinen Termin anbieten" - dieser Satz fällt in der Kinderarztpraxis von Claudius und Kathrin Ries im rheinland-pfälzischen Bad Kreuznach mehrfach pro Tag. Zwei Telefone am Empfang klingeln ununterbrochen. Die Arzthelferin hat die undankbare Aufgabe, Eltern zu vertrösten. "Das fällt uns extrem schwer", sagt der Kinderarzt. "Aber wir haben keine andere Wahl, hier ist die Hölle los."
15.000 Patientenkontakte hatten die beiden Ärzte im vergangenen Jahr, das Einzugsgebiet der Praxis ist groß. In dieser Woche haben sie rund 150 schniefende, hustende und fiebernde Kinder behandelt - jeden Tag. Influenza, RS-Virus, Pfeiffersches Drüsenfieber, die Infektionswelle rollt - und zwar nicht erst seit diesem Winter.
"Viele Kinder mit Atemwegsinfekten": Kinderarzt Claudius Ries in seiner Praxis in Bad Kreuznach.
"Auch im Frühjahr und Sommer haben wir so viele Kinder mit Atemwegsinfekten behandelt wie noch nie", berichtet Ries. Hinzu kämen immer mehr Patienten, die an den Spätfolgen der Pandemie litten. Zehn und mehr Stunden Arbeit pro Tag sind für Ries und seine Frau Alltag. Doch den größten Teil der Mehrarbeit, die die beiden bereits seit Monaten leisten, können sie nicht abrechnen. Denn das finanzielle Budget ihrer Kinderarztpraxis ist von der Kassenärztlichen Vereinigung im Voraus festgelegt - und gedeckelt.
Das heißt: Behandeln sie in einem Quartal mehr Patienten als im Jahr zuvor, bekommen sie dafür nicht mehr Geld. Für Kinderarzt Ries bedeutet das ganz konkret: "Ab dem 4. Dezember arbeiten wir praktisch umsonst."
Planwirtschaft in der Medizin?
So wie dem Bad Kreuznacher Kinderarzt geht es vielen seiner Kollegen in Deutschland. In Berlin etwa hatten bereits im Oktober zahlreiche Kinderarztpraxen aus Protest gegen die so genannte Fallpauschalen-Budgetierung für einen Tag geschlossen. "Welche andere Branche lässt das mit sich machen?", fragt Jakob Maske. Der Bundessprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte fordert: "Es muss endlich Schluss sein mit der unsinnigen Budgetierung, denn Medizin funktioniert nicht nach planwirtschaftlichen Kriterien."
Er spricht von einem "Debakel in den Praxen", das allein die Politik zu verantworten habe. Sie lasse seit Jahren die Pädiatrie finanziell ausbluten und bürde den Kinderärzten immer mehr Aufgaben auf, kritisiert Maske.
Denn die Zahl der Patienten in Kinderarztpraxen nehme stetig zu. Weil die Zahl der Geburten steige, weil Kinder von Geflüchteten hinzukämen und weil Kliniken die Versorgung chronisch kranker Kinder zunehmend an niedergelassene Ärzte abgäben.
Hinzu kämen neben Infekten, die nach der Corona-Pandemie zugenommen hätten, auch neue Krankheitsbilder: psychische Auffälligkeiten, sozial bedingte Entwicklungsstörungen, Übergewicht oder Essstörungen. Diese Patienten bräuchten viel mehr Zeit, das bestätigt auch Kinderarzt Ries aus Bad Kreuznach. Aber: "Diese Zeit haben wir eigentlich nicht."
"Es gibt kein ideales Abrechnungssystem"
Wolfgang Greiner ist Professor für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement an der Universität in Bielefeld. Auch er sieht die Nachteile des Systems der Fallpauschalen-Budgetierung, meint aber: "Es gibt kein ideales Abrechnungssystem."
Wenn Kassenärzte, ähnlich wie privatärztlich tätige Kollegen, etwa jede Leistung einzeln abrechnen könnten, würde dies zu deutlich mehr Diagnostik und damit deutlich mehr Kosten führen. "Dann explodiert das Gesundheitssystem", befürchtet Greiner.
Er plädiert dafür, das pauschale Abrechnungssystem zu flexibilisieren. Das heißt, Ärzten zu ermöglichen, in Ausnahmejahren wie während der Corona-Pandemie Zuschläge zu bekommen und die Mehrarbeit damit abrechnen zu können.
Von der Politik ist eine grundsätzliche Änderung der Budgetierung allerdings nicht geplant. Das Bundesgesundheitsministerium teilt auf Nachfrage von tagesschau.de mit: "Im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, gemeinsam mit den Kassenärztlichen Vereinigungen die Versorgung in unterversorgten Regionen sicherzustellen und die Budgetierung der ärztlichen Honorare im hausärztlichen Bereich aufzuheben. Demnach kann eine Budgetierung in überversorgten Regionen grundsätzlich fortbestehen."
Den Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte beschäftigt noch ein weiteres Problem: In den kommenden fünf Jahren wird etwa ein Drittel der Kinder- und Jugendärzte in Rente gehen. "Eltern werden dann noch viel mehr Probleme haben, einen Arzt zu finden, der ihre Kinder betreut", sagt Maske. Denn schon heute fänden Kinderärzte aufgrund der Arbeitsbedingungen keine Nachfolger. Der Berufsverband fordert von der Politik die Abschaffung der Fall-Pauschalen, bessere Rahmenbedingungen für niedergelassene Ärzte und mehr Medizin-Studienplätze.
Aus Sicht des Gesundheitsökonomen Greiner lösen mehr Medizinstudienplätze das akute Problem des Kinderärztemangels allerdings nicht. Er findet, schon jetzt müsse bei den Studierenden aktiv für die Fachrichtung Kinder- und Jugendmedizin geworben werden. Im Bereich der Allgemeinmedizin habe eine solche Image-Kampagne in den vergangenen Jahren Wirkung gezeigt, es seien mehr junge Ärztinnen und Ärzte für diese Fachrichtung gewonnen worden.
Kinderarzt Claudius Ries hat sich aus voller Überzeugung für sein Fach und die Arbeit mit Kindern und Familien entschieden. "Das ist der tollste Job der Welt", findet er noch immer. Dennoch sind sich seine Frau und er auch sicher: Wenn sich an den Bedingungen für niedergelassene Kinderärzte in den kommenden fünf Jahren nicht grundlegend etwas ändert, werden sie ihre Praxis aufgeben, denn: "So können wir nicht ewig weiterarbeiten."