Vorbereitung für Silvester "Schon wieder Neukölln?"
Vor einem Jahr machten die Silvesterkrawalle in Berlin-Neukölln Schlagzeilen. Drei "Gipfel gegen Jugendgewalt" später ist noch immer nicht klar, ob und wie das Problem in den Griff zu bekommen ist.
Das Jahr 2023 begann für die Berliner Landespolitik gleich mit einer Krise. Bilder von vermummten Jugendlichen, die im Bezirk Neukölln Silvesterraketen auf Polizisten und Rettungswagen schießen, gingen durch die Republik. Mehr als hundert Angriffe auf Einsatzkräfte wurden gezählt, mehr als hundert Tatverdächtige festgenommen.
Franziska Giffey, zu dieser Zeit noch Regierende Bürgermeisterin, zeigte sich "erschüttert" und rief rasch einen "Gipfel gegen Jugendgewalt" ein. Politiker, Polizisten, Juristen und Sozialarbeiter sollten Lösungen liefern. Das Ergebnis: Millionen für mehr Sozialarbeit, modernere Jugendclubs und Jugendämter. Die SPD-Politikerin sprach von einer "Zäsur". Die Zeit dränge. Besonders mit Jugendlichen im schulpflichtigen Alter müsse gearbeitet werden.
Sorge vor Silvester
Kurz vor dem nächsten Jahreswechsel schauen viele Beteiligte mit Sorge auf Neukölln. Werden sich die Bilder wiederholen? Oder haben die insgesamt drei Jugendgipfel, die es seitdem gab, etwas verändert?
Mitte Dezember kam es an einer Neuköllner Schule wieder einmal zu einem außergewöhnlichen Fall von Jugendgewalt. Angefangen hatte es mit fünf streitenden Jugendlichen und einer Dose Pfefferspray. Am Ende standen eine verletzte Lehrerin, ein massiver Polizeieinsatz und 49 Kinder, die wegen Reizungen durch das Pfefferspray behandelt werden mussten, zu Buche. Und Neukölln war wieder einmal in den Schlagzeilen.
Jugendgewalt nimmt zu
Für Andreas Zick ist das kein Zufall. Zick ist Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld und arbeitet seit 15 Jahren zum Thema Jugendgewalt. Er reiht den Vorfall ein in eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung: "Die Jugendgewalt nimmt zu, insbesondere bei der Gruppe unter 14 Jahren. Auch in der Gruppe von 14 bis 18 Jahren, nicht so sehr bei den Älteren."
Dennoch beschränke sich das Problem nicht auf Schulen, so Zick. Es fehle vielerorts zunehmend an Zivilcourage, Gewalt könne ungestörter auch im öffentlichen Raum "als Erlebnis" gesehen werden.
Zick sagt aber auch, es gebe Mittel, mit denen das Problem bekämpft werden könne. "Gewaltpräventionsprogramme funktionieren", so Zick. "Wir müssen da investieren. Studien zeigen, dass es dann besser läuft und die Gewaltbereitschaft sinkt."
Sozialbeamte, Projekte und Beamte
In Neukölln wird seit Jahren die ganze Klaviatur der Gewaltprävention gespielt: Sozialarbeit, an Schulen und auf der Straße, soll Kindern und Jugendlichen vermitteln, dass die Gesellschaft Chancen für sie bietet. Speziell ausgebildete "Stadtteilmütter" sollen Wissen über Bildung und Erziehung "multiplizieren" und auch noch integrativ wirken. Es gibt Mentorenprogramme, einen Jugenddemokratiefonds, integrative Theaterprojekte.
Und es patrouillieren Kontaktbereichsbeamte der Polizei, die einen Draht zwischen Bürgern und Ordnungshütern bieten sollen. An vielen Schulen in Neukölln gibt es Wachschutz. Dieser wurde bereits vor 15 Jahren eingeführt - nachdem Lehrer der Rütli-Schule Alarm geschlagen hatten, dass die Situation in ihrem Haus außer Kontrolle geraten war.
Wie die Lage in Neukölln aussehen würde, wenn es das alles nicht gegeben hätte, vermag niemand zu beantworten. Was all die Projekte gebracht haben, aber ebenso wenig. Wachschutz gab es beispielsweise auch an der Schule, an der es kürzlich zum Vorfall mit Reizgas kam.
Radikaler Ansatz notwendig?
Bereits im Vorfeld des erneuten Jahreswechsels äußerten sich Berliner Politikern zu dem, was dieses Mal kommen könnte. Zu hören waren Klassiker der politischen Debatte zum Thema Jugendgewalt. "In der Silvesternacht werden Recht und Gesetz auf Berliner Straßen gelten", ließ der Regierende Bürgermeister Kai Wegner vernehmen.
Ex-Bürgermeisterin Giffey befürchtet erneute Ausschreitungen, auch wegen der durch den Nahost-Konflikt aufgeheizten Lage auf Berlins Straßen: "Es wird nicht einfacher."
In die erwartbaren Wortmeldungen platzten auch Aussagen des jugendpolitischen Sprechers der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Alexander Freier-Winterwerb: "In der Debatte läuft es immer so: Wir haben ein Problem - wie viele Sozialarbeiter brauchen wir, um das aufzufangen? Wir reden seit so vielen Jahren darüber."
Explodierende Kosten
Freier-Winterwerb saß 15 Jahre im Bezirksparlament von Treptow-Köpenick, zwei Jahre lang war er Stadtrat. Die Jugendpolitik ist sein Thema. Dass sich Jugendgewalt durch mehr staatliche Ausgaben allein bekämpfen lässt, glaubt er nicht. Für ihn sind vor allem einige besonders problematische Jugendliche der Hebel, um das Problem zu lösen. Diese verhältnismäßig wenigen Fälle sorgten für den meisten Ärger - und die meisten Kosten.
"Als ich angefangen habe in meinem Bezirk, haben wir 19 Millionen Euro für Hilfen zur Erziehung ausgegeben. Jetzt sind es 55 Millionen. Unsere kommunalen Haushalte gehen krachen, weil sich die Hilfen zur Erziehung so entwickeln", sagt Freier-Winterwerb.
Zunächst müsse man die Eltern in die Pflicht nehmen, der Staat könne nicht alles auffangen. Doch das klappe oft nicht, denn die Eltern seien häufig nicht die Lösung, sondern vielmehr Teil des Problems. "Wir haben in Deutschland immer die Idee: 'Wenn das Elternhaus versagt, muss der Staat mit Lehrern, mit Sozialarbeitern einspringen.' Aber wir unterschätzen, wie stark die familiären Bande sind." Dann müssten andere Mittel her.
Fragt man Freier-Winterwerb danach, was dann helfen könnte, sagt er: "Ich will Kinderrechte ins Grundgesetz schreiben. Dann könnten wir viel konsequenter schauen: 'Was ist gut für das Kind?'" Doch was ist, wenn es die Eltern sind, die nicht gut für das Kind sind?
"Problemkinder" raus aus "Problemfamilien"?
In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass Kinder zeitweise aus einem problematischen Elternhaus herausgenommen und bei einer Pflegefamilie untergebracht werden. Für Freier-Winterwerb ist "zeitweise" das Problem: "Bislang ist das Ziel der Jugendämter stets, Kinder in ihre Familien zurückzubringen. Aber es kann einfach besser sein, wenn die Kinder dauerhaft aus den Familien herauskommen."
Das Kalkül: Wenn Kinder für immer in bessere Familienverhältnisse kommen, haben sie bessere Chancen, werden selbst nicht zum Problem - und am Ende auch seltener gewalttätig. Für das Wohl der Kinder einzustehen, notfalls auch gegen die Eltern, bedeutet für Freier-Winterwerb auch, für das gesellschaftliche Wohl zu sorgen.
Er wirbt mit Leidenschaft für seinen Vorschlag: "Ich war selbst so ein Kind: rechtsextremer Vater, Gewalterfahrungen. Ich bin mit 15 von zuhause weg." Sein Glück: Er traf auf eine Art Vaterfigur, einen Mentor, der ihn "unter die Fittiche genommen hat". Sozialarbeit allein hätte das nicht vermocht, sagt er.
Anlaufpunkt für "alle Idioten"
Fragt man ihn nach seinen Aussichten auf die kommende Silvesternacht, antwortet er, die Polizei sei vor Ort. Sozialarbeiter würden am Silvesterabend Veranstaltungen mit Jugendlichen machen, alles gut, alles richtig. "Auf der anderen Seite wissen doch jetzt alle Idioten in dieser Bundesrepublik, dass man in Neukölln Stress machen kann. Und dann heißt es: 'Schon wieder Neukölln!' Das ist einfach schade."