Jüdisches Leben in Deutschland Der Alltag hat sich verändert
Seit dem Angriff der Hamas auf Israel gibt es in Deutschland vermehrt antisemitische Straftaten. Wegen der erhöhten Bedrohung werde jüdisches Leben auch weniger sichtbar, sagt Zentralratspräsident Schuster.
Auf dem Boden liegen umgefallene Öllichter und Plakate. "Ihr gehört dazu", heißt es auf einem Schild, daneben ist die Menora, der Siebenarmige Leuchter, gemalt. Laub und verwelkte Blumen verdecken eine Pappe, auf der "Gegen Antisemitismus" steht.
Gesten der Solidarität, bekundet im vergangenen Herbst vor der Synagoge Kahal Adass Jisroel in der Berliner Brunnenstraße. Aber auch ein Zeichen, dass die großen Wellen des Mitgefühls eine Weile zurück liegen.
Damals, Mitte Oktober, gab es einen Anschlag mit einem Molotowcocktail auf die Gebäude. Es war eine der vielen Straftaten nach dem Kriegsbeginn im Nahen Osten am 7. Oktober 2023.
Angst vor Angriffen
Rund 100 Tage später ist "für Jüdinnen und Juden keine Normalität eingekehrt", sagt Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung. Das zeigten auch die Zahlen des Bundeskriminalamtes: Seit Kriegsbeginn seien 2.249 antisemitische Straftaten erfasst worden. "Ein erheblicher Teil ist nicht etwa kurz nach dem 7. Oktober begangen worden, sondern Wochen und Monate später", hebt Klein hervor.
Gleichzeitig sei "aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden", wie sehr sich der Alltag für Jüdinnen und Juden verändert habe. Jüdische Familien hätten auch heute oft keine traditionelle Mesusa am Türrahmen - aus Angst vor Angriffen, so schildert es Klein. "Sie ändern weiter jüdisch klingende Namen in Bestell- und Taxi-Apps."
Es sei ein ständiges "Aushandeln von Sichtbarkeit und Sicherheit", sagt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden. Der Verband hat seine Gemeinden befragt, wie sie die Lage in diesen Monaten seit Kriegsbeginn wahrnehmen.
Das Ergebnis: Die Zusammenarbeit mit Sicherheitsbehörden laufe sehr gut, gleichzeitig bleibe die Verunsicherung groß. Der Gottesdienstbesuch habe abgenommen. Veranstaltungen mit jüdischen Künstlern seien abgesagt worden. Schusters bittere Bilanz: "Jüdisches Leben ist weniger sichtbar."
Erhöhte Gefährdungslage
Für die Berliner Polizei, die seit dem vergangenen Oktober mit einem Großteil der bundesweiten Anti-Israel-Demos konfrontiert war, besteht "unverändert eine Erhöhung der bis dahin ohnehin schon hohen abstrakten Gefährdungslage".
Dementsprechend schütze man weiterhin 163 jüdische oder israelische Einrichtungen in der Hauptstadt, sagt Martin Dams, Sprecher der Berliner Polizei. "Hierfür werden 675 Dienstkräfte eingesetzt."
Der Ausnahmezustand ist zur dauerhaften Einsatzlage geworden - so klingen die Zahlen. Und so sieht es auch vor der Synagoge in der Brunnenstraße aus: Im Herbst umzäunte "nur" ein Flatterband den Bürgersteig vor dem Eingang, daneben zwei Polizisten.
Inzwischen ist die Gemeinde doppelt gesichert. Rot-weiße Barken sperren den Platz weiträumig ab, dahinter stehen noch einmal Absperrgitter aus Metall. Die Polizeibeamten begrüßen Kinder, die hier zur Kita oder Schule gebracht werden. Für sie sind Ausflüge weiterhin nur sehr eingeschränkt möglich.
"Mit Empathielosigkeit konfrontiert"
Immerhin gab es auch Solidarität, andauernde sogar: Wochenlang kamen jeden Freitag Menschen zur Mahnwache vor die Synagoge. "Sie kamen bei Regen, Schnee und Kälte", schreibt die Gemeinde in einem Dankesbrief. "Das gab uns Halt und Kraft, aber auch Hoffnung und Zuversicht, dass Sie, unsere Nachbarn, auch wenn die Mahnwache nicht mehr da ist, sich immer wieder bereit zeigen werden, an unserer Seite zu stehen."
In diesem Jahr sollen die Solidaritätstreffen noch einmal pro Monat stattfinden. Doch solche Aktionen seien zu selten, sagt Zentralratspräsident Schuster. "In ihrem Alltag sind Jüdinnen und Juden mit Empathielosigkeit konfrontiert." Es gebe zahlreiche antisemitische Vorfälle am Arbeitsplatz, in Universitäten oder unter Nachbarn. "Oft sind es Äußerungen, Kommentare", so Schuster.
Der Zentralrat will ab heute mit einer neuen Kampagne zu mehr Mitgefühl und Zivilcourage aufrufen. Und zu Solidarität, die es sich nicht zu bequem macht: "Stop Repeating Stories", heißt der Aufruf, Geschichten sollten sich nicht wiederholen. In einem Video erzählt eine junge Frau: "Von den Nachbarn hat keiner gefragt, wie es mir geht. Nur diese weinenden Emojis, die haben sie alle gepostet auf Whatsapp."
Große Demos für Schuster "ein gutes Zeichen"
Ganz bewusst mahne der Slogan nicht, dass sich "Geschichte wiederholt", wie es so oft heißt. Schuster sieht einen wichtigen Unterschied zu den 1930er Jahren: Heute stehe der Staat hinter den Jüdinnen und Juden. Aber an die Gesellschaft wolle man appellieren.
"Umso wichtiger waren die Demos gegen Rechtsextremismus und das Erstarken der AfD in den vergangenen Tagen", sagt Schuster. Für die Demokratie und jüdisches Leben sei der Rechtsextremismus "eine der größten Bedrohungen, weil er so gut organisiert ist".
Er habe bislang immer das Gefühl gehabt, man sehe zwar die Umfragewerte und Wahlergebnisse der AfD, fügt Schuster hinzu. "Aber es lockte niemanden so richtig hinter dem Ofen hervor." Für ihn seien die großen Demos ein gutes Zeichen - und wohl mehr wert als nur ein paar Emojis im Netz.