Angehörige zu Hanau "Unsere Welt blieb stehen am 19. Februar"
Ajla Kurtović hat bei dem Attentat in Hanau vor einem Jahr ihren Bruder verloren. Im Interview mit tagesschau.de spricht sie von Fassungslosigkeit, Angst und ihrem sehnlichen Wunsch nach Aufklärung.
tagesschau.de: Heute findet in Hanau eine Gedenkfeier anlässlich des rassistischen Attentats am 19. Februar 2020 statt, bei dem auch Ihr Bruder Hamza Kurtović ermordet wurde. Was empfinden Sie heute - ein Jahr nach der Tat?
Kurtović: Das ist ein sehr schwerer Tag für mich, für meine Familie und die anderen Angehörigen. Ich empfinde Trauer, Zorn, Wut und vor allem immer noch Fassungslosigkeit. Ein ganzes Jahr ist vergangen und wir hatten eigentlich keine Zeit zu trauern, weil wir tagtäglich damit beschäftigt sind, Antworten auf unsere Fragen zu finden.
Ajla Kurtovićs Bruder Hamza wurde bei dem Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 getötet. Seither kämpft sie für eine lückenlose Aufklärung der Tat.
"Wir wollen endlich Antworten"
tagesschau.de: Welche Fragen sind das?
Kurtović: Hätte die Tat verhindert können? Was genau ist in der Tatnacht passiert? Warum konnten wir keinen würdigen Abschied nehmen von meinem Bruder? Wir haben zu den meisten Fragen bis heute keine Auskunft von den ermittelnden Behörden bekommen. Zwar fand im Juni einmal ein Treffen mit Vertretern der Generalbundesanwaltschaft statt und die waren auch durchaus bemüht.
Aber oft hieß es, "das können wir nicht beantworten, weil die Ermittlungen noch laufen". Oder: "Dafür sind wir nicht zuständig", weil Fragen zum Polizeieinsatz oder zum Waffenschein des Täters nur die Polizeibehörden vor Ort beantworten könnten. Und mit der hessischen Polizei hat bis heute kein Treffen stattgefunden. Wir werden seit einem Jahr von Behörde zu Behörde verwiesen. Uns ist aber egal, wer zuständig ist, wir wollen einfach endlich Antworten auf die Fragen, die uns seit einem Jahr den ganzen Tag beschäftigen.
tagesschau.de: Was treibt Sie am meisten um?
Kurtović: Ich frag mich vor allem, wie der Täter in der Tatnacht von einem Ort zum anderen Ort fahren und Menschen töten und anschließend noch nach Hause fahren konnte. Waren die Polizei und Rettungskräfte schnell genug vor Ort? Hätte er vielleicht gerettet werden können?
"Wir haben eine Woche lang nicht gewusst, wo mein Bruder ist"
tagesschau.de: Wie haben Sie vom Tod ihres Bruders erfahren?
Kurtović: Mein Bruder ist am zweiten Tatort angeschossen worden und kam anschließend ins Krankenhaus. Aber niemand konnte uns sagen, in welches Krankenhaus. Wir waren zunächst am Anschlagsort, wurden dann aber mit einem Bus mit anderen Angehörigen in eine Polizeihalle gebracht. Dort sollte der zentrale Ort der Information sein.
Man hat uns zu diesem Zeitpunkt nur gesagt, dass mein Bruder leicht verletzt sei und behandelt werde. Und morgens um halb sieben wurde dann von einem Beamten eine Liste vorgelesen mit den Namen der Toten und mein Bruder war darunter. Wir haben dann eine Woche lang nicht gewusst, wo mein Bruder ist und konnten ihn nicht sehen.
tagesschau.de: Was hätten Sie sich gewünscht?
Kurtović: Ich habe meinen Bruder erst in der Leichenhalle am Friedhof gesehen, komplett abgedeckt, nur noch sein Gesicht war zu sehen. Sonst wäre der Anblick nicht zu ertragen gewesen. Man hatte in der Zwischenzeit eine Obduktion gemacht, uns darüber aber nicht informiert. Wir hätten ihn gerne vor der Obduktion gesehen und würdevoll Abschied genommen.
"Wir haben alle ein Ziel: Aufklärung"
tagesschau.de: Wie haben Sie die Zeit unmittelbar nach der Tat erlebt?
Kurtović: Wir waren einfach im Schock. Unsere Welt blieb stehen am 19. Februar. Ich hatte das Gefühl, um uns herum drehte sie sich weiter, aber für uns stand sie still. Ich hab seitdem auch jedes Zeitgefühl verloren. Mal kommt es mir vor, als wäre das erst gestern gewesen, mal als wäre es schon ein paar Jahre her. Wir haben zum Glück auch Unterstützung bekommen von der Stadt Hanau zum Beispiel und der "Initiative 19. Februar", die haben einen Raum für die Angehören gemietet. Das ist unser Treffpunkt. Wir gehen dahin, um zu trauern, zusammen zu sein und uns auszutauschen. Denn wir haben ja alle die gleichen offenen Fragen und ein Ziel: die Aufklärung.
tagesschau.de: Gibt es da aus Ihrer Sicht bis heute keine Fortschritte?
Kurtović: Im Grunde tappen wir noch genauso im Dunkeln wie am Anfang. Das einzige, was der Innenminister inzwischen eingestanden hat, ist, dass die Notrufzentrale in der Tatnacht wohl nicht richtig funktioniert hat. Dieses Problem will er jetzt, ein Jahr später, beheben. Für mich sieht das so aus, als ob das nur passiert, weil der öffentliche Druck so groß ist.
"Ich habe mehr Angst als früher"
tagesschau.de: Hat sich Ihre Einstellung zu Ihrer Heimat Deutschland verändert?
Kurtović: Ich glaube eigentlich an den Rechtsstaat. Aber ich hätte mir vor dem 19. Februar nicht vorstellen können, dass so wenig für Aufklärung getan wird. Klar, der Täter ist tot. Aber ich hätte erwartet, dass man den Sachverhalt in allen Details aufklärt, damit man aus den Fehlern Konsequenzen ziehen kann. Insofern ist unser Vertrauen in die Behörden durchaus beschädigt. Wie soll man der Polizei vertrauen, wenn man nicht einmal weiß, ob der Notruf funktioniert?
tagesschau.de: Der Anschlag richtete sich gezielt gegen Menschen mit ausländischen Wurzeln, ausländischem Aussehen. Fühlen Sie sich noch sicher?
Kurtović: Ich habe mehr Angst als früher. Die Tat ist ja quasi vor unserer Haustür passiert. Ich hätte nie für möglich gehalten, mal von so etwas persönlich betroffen zu sein. Ich schaue mich inzwischen anders um, wenn ich irgendwo hingehe, überlege, bin ich hier sicher? Und ich achte mehr darauf, was um mich herum passiert.
"Ich glaube man hätte das Attentat verhindern können"
tagesschau.de: Tun Politik und Gesellschaft genug für die Aufarbeitung?
Kurtović: Ich glaube schon, dass eine gewisse Sensibilisierung in der Gesellschaft stattgefunden hat, auch in Bezug auf Rassismus. Es gibt einige, die dem noch entschiedener entgegentreten. Aber ich glaube nicht, dass es ausreicht. Bei der Politik vermisse ich konkrete Konsequenzen. Es reicht nicht zu sagen "Hanau darf sich nicht wiederholen".
Ich würde zum Beispiel gerne wissen: Wie will man in Zukunft verhindern, dass ein psychisch kranker Mann mit rechter Gesinnung einen Waffenschein besitzt? Ich glaube nämlich, man hätte dieses Attentat verhindern können, wenn die Behörden mehr miteinander kommuniziert hätten.
tagesschau.de: Was wünschen Sie sich am meisten?
Kurtović: Ich wünsche mir, dass der Sachverhalt lückenlos aufgeklärt wird, damit wir endlich anfangen können, diese Tat zu verarbeiten. Dass wir uns endlich die Zeit nehmen können zu trauern.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.