Demonstration gegen Rechtsextremismus in der Bremer Innenstadt

Protest gegen Rechtsextremismus "Die Menschen feiern die Demokratie"

Stand: 10.02.2024 09:28 Uhr

An den Protesten gegen Rechtsextremismus haben allein an den vergangenen drei Wochenenden etwa zwei Millionen Menschen teilgenommen. Doch was können die Massendemos bewirken? tagesschau.de hat Expertinnen und Experten befragt.

Die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus verzeichnen nach wie vor großen Zulauf. An den vergangenen drei Wochenenden gab es insgesamt etwa 1,98 Millionen Teilnehmer an Demonstrationen für die Demokratie und gegen Rechtsextremismus. Das teilte das Bundesinnenministerium unter Berufung auf polizeiliche Angaben tagesschau.de mit. Die Zahlen der Demonstrationen unter der Woche wie die 180.000 Teilnehmenden am 19. Januar in Hamburg sind dabei noch nicht mitgezählt.

Doch was können diese Massendemonstrationen bewirken? Und was folgt daraus? tagesschau.de hat die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch, den Protestforscher Dieter Rucht, die Historikerin Hedwig Richter und den Extremismusforscher Andreas Zick gefragt und ihre Antworten protokolliert.

Ursula Münch: "Gemeinsinn kommt öffentlich zum Tragen"

"Es ist grundsätzlich positiv zu werten, wenn die Leute für die Demokratie auf die Straße gehen. Die sogenannte schweigende Mehrheit bleibt nicht daheim, sondern zeigt sich. Das ist schon deshalb sinnvoll, weil es die Behauptungen von Extremisten und Populisten Lügen straft, die für sich reklamieren, 'das Volk' zu vertreten. Das tun die Populisten und Extremisten aber nicht: Sie sprechen lediglich für eine lautstarke Minderheit und stacheln diese zusätzlich auf.

Ein weiterer positiver Aspekt der Demonstrationen ist die sichtbare Solidarisierung mit den Menschen, die selbst oder deren Familie in die Bundesrepublik zugewandert ist. Hier kommt ein Gemeinsinn öffentlich zum Tragen und die Distanz zu den Ausgrenzungsabsichten zum Beispiel der AfD.

Problematisch wäre es, wenn die seriösen Parteien sich in der Folge 'zurücklehnen' nach dem Motto: Die Bürger engagieren sich, das genügt. Damit würden sie sich selbst aus der Pflicht verabschieden, sich nach ihren eigenen Versäumnissen zu fragen und zu überlegen, welchen Anteil sie jeweils daran haben, dass die AfD so einen Zulauf verzeichnen konnte.

Ein weiteres Problem könnte daraus entstehen, dass Demonstrationen keine Orte für ausgewogene Diskurse sind; das heißt, dass sich in Folge der Mobilisierung, die ja vor allem gegen die AfD gerichtet ist, womöglich zwei Gruppen noch unversöhnlicher gegenüberstehen als ohnehin.

Wünschenswert wäre es, wenn viele Leute nicht nur bei Demos mitgingen, sondern sich auch wieder in Parteien engagierten. Oder in Gewerkschaften und anderen Verbänden. Das sind Orte, an denen differenziert werden kann. Und von solchem Engagement lebt die Demokratie.

Bei einer Demonstration vor einigen Tagen in Oberbayern habe ich außerdem darauf hingewiesen, wie wichtig es ist zu begreifen, dass unsere freiheitliche Demokratie auf einem öffentlichen Meinungsbildungsprozess aufbaut, der frei von (digitaler) Manipulation ist. Hier ist die Verwundbarkeit der freiheitlichen Demokratie groß.

Wünschenswert wäre deshalb auch, dass die Teilnehmer die Demonstrationen zum Anlass nehmen, auch selbst den Kontakt zu denjenigen suchen, die das Vertrauen sowohl in die Medien als auch in die seriösen Parteien und in die Problemlösungsfähigkeit unserer Demokratie verloren haben. Das sind schließlich nicht nur Verschwörungsgläubige, sondern auch unsere Bekannten, Verwandten, Kollegen und Nachbarn."

Ursula Münch
Ursula Münch
Ursula Münch ist seit 2011 Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Sie beschäftigt sich viel mit gesellschaftlicher Spaltung und Polarisierung. Zuvor war sie Professorin für Politikwissenschaft und Dekanin der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften an der Universität der Bundeswehr München.

Dieter Rucht: "Vermutlich verhärten sich die Fronten"

"Ein bereits jetzt erkennbarer Effekt dieser Demonstrationen ist, dass sie das Selbstbewusstsein der Beteiligten stärken: 'Wir haben ein gemeinsames Ziel. Wir sind Demokraten. Und wir sind viele.'

Über darüber hinaus gehende Wirkungen lässt sich nur spekulieren. Vermutlich verhärten sich die Fronten. Ein Teil der Rechten wird angesichts des Gegenwinds wohl sagen: 'Jetzt erst recht.' Diese Leute fühlen sich als Opfer einer 'von oben' inszenierten Kampagne. Sie werden noch enger zusammenrücken.

Das wiederum lässt Gegenreaktionen des demokratischen Lagers erwarten. Der politische Richtungsstreit veranlasst bislang indifferente Gruppen insbesondere aus der 'Mitte' der Gesellschaft, Position zu beziehen. Das dürfte unter dem Strich zu einer Stärkung der Demokratie führen.

Als politischer Bürger hoffe ich, dass die derzeitigen Demonstrationen kein Strohfeuer sind. Auch wenn diese Protestwelle wieder abebben wird, werden sich aufgrund anstehender Wahlen und fortgesetzter Provokationen von rechtsradikaler Seite neue Anlässe für prodemokratischen Protest bieten.

Ich erwarte, dass ein Teil der jetzt sichtbar gewordenen politischen Energie sich in Gruppen und Organisationen der politischen Zivilgesellschaft verstetigt. Und ich erwarte, dass die Engagierten auch in ihrer alltäglichen Lebenswelt - am Arbeitsplatz, im Sportverein, in der Kneipe - bei konkreten Anlässen ihre Haltung zum Rechtsextremismus offensiv vertreten. Dafür gibt es den schönen Begriff der Zivilcourage."

Dieter Rucht (Archivbild: 2017)
Zur Person
Dieter Rucht ist Soziologe. Der Protestfroscher war bis zu seiner Emeritierung im Juni 2011 Co-Leiter der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa am Wissenschaftszentrum Berlin.

Hedwig Richter: "Ein Gefühl der Zusammengehörigkeit"

"Die Demonstrationen sind ein Fest. Die Menschen feiern die Demokratie. Das berichten diejenigen, die dabei sind. Und so stärken die Demonstrationen die Demokratie. Sie kommunizieren, dass die Demokratie und ihre Werte den Menschen wichtig sind.

Zu diesen Werten zählt zuallererst die Menschenwürde, die in Artikel 1 des Grundgesetzes den Kern des deutschen Demokratie- und Staatsverständnisses bildet. Das wird auf den Schildern deutlich, aber auch bei vielen Ansprachen - leider nicht bei allen, manche äußern sich teilweise abgrenzend gegenüber konservativ demokratischen Positionen.

Die Demonstrationen schaffen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Solidarität. Demokratie hat sehr viel mehr mit Gefühlen zu tun, als oft klar ist. Sie lebt von Vertrauen, Solidarität, Mitgefühl.

Die grundlegende Annahme, dass alle Menschen gleich sind, kann nicht allein abstrakt gedacht werden, sie muss auch gefühlt werden. Die Demonstrationen zeigen diese Gleichheit durch die egalitäre Teilnahme Hunderttausender Menschen unterschiedlichster Herkunft - und durch die Botschaft von der Menschenwürde.

Für die Bevölkerung könnte die Folge sein, das Engagement für Demokratie von diesen Demonstrations-Festen in den Alltag zu übertragen: in Parteien einzutreten, sich bei Wahlen auf den Marktplatz zu stellen, womöglich Wahlkampf für demokratische Parteien von Haustür zu Haustür zu machen. Die Politik sollte eine der lautesten Forderungen der Demonstrierenden wenigstens in Erwägung ziehen: ein Verbot der AfD, um deren Bekämpfung es in den Demonstrationen wesentlich geht.

Die Presse und die Öffentlichkeit insgesamt könnten eine demokratischere Kommunikation pflegen: Unterstellungen, Unversöhnlichkeiten und Hass innerhalb des demokratischen Spektrums möglichst zu meiden - und sich davor zu hüten, mit Fake-News auch nur zu flirten. Selbst die Kritik am politischen Gegner sollte von Respekt zeugen."

Hedwig Richter (Archivbild: 2020)
Zur Person
Hedwig Richter ist Historikerin. Sie ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört die Demokratie- und Diktaturforschung.

Andreas Zick: "Nachhaltige Stärkung der Zivilgesellschaft"

"Meines Erachtens haben die Demonstrationen schon etwas für die Demokratie bewirkt. Eine Demokratie braucht eine stabile und einflussreiche Zivilgesellschaft, die sich für eine wehrhafte Demokratie engagiert und sich auch ab und an zeigt, damit Politik und anderen klar ist, wo die Grenzen der Toleranz für Extremismus, Hass und Gewalt liegen. Diese hat sich auf den Demonstrationen gezeigt und einen Ort der Verständigung gefunden.

Über Jahre haben rechtsradikale Demonstrationen die Räume bestimmt. Viele Gruppen, die nun vereint eine eigene Demonstration herstellen, tauchten nur als Gegendemonstrationen auf.

Die Demonstrationen haben außerdem eine neue öffentliche Aufmerksamkeit auf das Thema Rechtsextremismus wie auch Demokratie und Schutz von Zugewanderten gelegt. Seit Wochen ist das Thema im öffentlichen Raum, wird diskutiert und in Teilen konnte die leise schleichende Akzeptanz von rechtspopulistischen wie auch rechtsextremen Themensetzungen gebrochen werden.

Die rechtsradikalen Strukturen werden auch dank vieler Medienrecherchen und Berichte aus zivilgesellschaftlichen Gruppen sichtbarer und können weniger schlecht von rechtspopulistischen und rechtsextremen Gruppen verdeckt werden.

Auch wird eine Erinnerungskultur wieder reaktiviert. Auf vielen Schildern steht 'Nie wieder' und gemeint ist ein faschistisches System, das danach trachtet, Menschen zu vernichten.

Aus der Forschung zur Erinnerungskultur ist bekannt, dass immer mehr Erinnerungen verloren gehen, dass Rituale hohl werden, dass junge Menschen sich kaum erinnern können. Das wird nun durch die Demonstrationen kenntlich gemacht und sie betonen, wie relevant diese Kultur ist.

Eine zentrale Folge der Demonstrationen ist die nachhaltige Stärkung der Zivilgesellschaft und Demokratieprojekte. Das ist eine Chance für die Politik, für Städte, Kommunen und Kreise, endlich nachhaltig zivilgesellschaftliche Strukturen zu stärken und zu schaffen. Es sollte nicht vergessen werden, dass in vielen Sozialbereichen die Förderung gerade entweder stagniert und heruntergefahren wird. Demokratien brauchen in Krisenzeiten starke Zivilgesellschaften.

Außerdem ergeben sich viele andere Folgen aus der Frage, wie es so weit kommen konnte: Kann die Gesellschaft weiterhin blind für eine Normalisierung der Verschiebung von Normen und Werten sein? Lässt sie sich von eigenen Zukunftsvorstellungen einer demokratischen Gesellschaft oder von rechtspopulistischen Deutschtümeleien leiten? Wie viel und welche Bildung ist wann nötig, um Demokratin oder Demokrat zu werden? Ist das Grundgesetz hinreichend geschützt? Einige dieser Fragen werden derzeit in einer Intensität bearbeitet, wie wir sie lange nicht gesehen haben."

Andreas Zick
Zur Person
Andreas Zick ist Direktor des Instituts- für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld. Seine Forschung befasst sich schwerpunktmäßig mit innergesellschaftlichen Konflikten und Prozessen der Radikalisierung

Protokoll: Konstantin Kumpfmüller, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk Nova am 23. Januar 2024 um 17:52 Uhr.