Lernlücken und psychische Probleme Wie Schulen mit den Corona-Folgen kämpfen
In Deutschland sind Sommerferien. Das Schuljahr ist vorbei. Und trotz vieler Bemühungen: Die Lernlücken nach der Pandemie sind weiterhin deutlich sichtbar. Wie Schüler und Fachleute die Lage bewerten.
Einige Monate nach dem Ausklingen der Corona-Pandemie berichten Betroffene immer noch von Nachwirkungen im Schulbetrieb: Lernrückstände seien enorm; viele Kinder und Jugendliche zeigten noch immer psychische Belastungen.
Wäre "Aufholen des Corona-Rückstands" ein Schulfach, wie würden Schülerinnen und Schüler, Fachleute und Gewerkschaften die deutschen Schulen darin benoten?
Schwierige Umstellung auf Präsenzunterricht
"2 - 3" - also gut bis befriedigend - vergibt Felicia. Sie ist 16 Jahre alt und besucht ein Gymnasium in Mainz. "Mir lag der Online-Unterricht während Corona sehr, weil ich mir alles selbst einteilen konnte. Schwierig war dann die schnelle Umstellung von Online-Schule zurück auf 'normale Schule' - wieder darin zu funktionieren." Mit der Rückkehr zum regulären Schulunterricht mussten alle wieder nach dem gleichen Schema lernen.
"Manche Lehrer versuchten, einfach da weiterzumachen, wo sie vorher aufgehört hatten, ohne auf die Zeit dazwischen einzugehen. Sie machten gleich von null auf hundert, deswegen gab es auch Auseinandersetzungen", erzählt Felicia und lobt Lehrer, die behutsam vorgingen: "Ihnen konnte man auch sagen, dass man dies und jenes zu Hause nicht so richtig lernen konnte."
Mehr Pandemie-Probleme als bei ihr sieht die Gymnasiastin bei jüngeren Schülern in der fünften bis siebten Klasse: "Wegen Corona haben sie das selbstständige Lernen und auch das Klassengefüge nicht erlernen können. Mit anderen zusammen zu sein, mit anderen zusammen zu lernen: Das sind sie immer noch nicht gewohnt, erzählen uns die Lehrer."
Bundesschülerkonferenz: Lernrückstände bei vielen enorm
"3 minus" - befriedigend mit Abzug - gibt die Bundesschülerkonferenz und unterstreicht damit Felicias Schilderungen: "Die Lernrückstände bei vielen Lernenden sind enorm, sichtbar an merklichen Leistungsabfällen, und der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die unter psychischen Belastungen leiden, ist drastisch angestiegen", fasst Federico Ciullo, Sprecher der Bundesschülerkonferenz, Berichte von Lehrkräften und Lernenden zusammen. "Bis jetzt gibt es auch keinen Hinweis auf eine Tendenz zur Normalität, denn es fehlt bundesweit an Lehrkräften und Schulpsychologie, um individuell auf solche Probleme zu reagieren."
Ciullo lobt zwar das Programm "Aufholen nach Corona" des Bundesjugendministeriums, das insgesamt zwei Milliarden Euro zur Verfügung gestellt hat. Dennoch bestehe weiterhin ein Mangel an Ressourcen und Unterstützung für Lehrkräfte und Schulen: "Eine nachhaltige Förderung und individuelle Unterstützung sind essentiell, um die Lernrückstände wirklich aufholen zu können."
Außerdem seien immer noch nicht alle Schulen ausreichend mit digitaler Infrastruktur ausgestattet, was zu weiteren Benachteiligungen führe, wenn nicht alle Lernenden gleichermaßen Zugang zu digitalen Lernmöglichkeiten haben. "Dass der Digitalpakt Schule ausläuft, bereitet uns zusätzlich Sorgen."
Kinderschutzbund: Kein grundsätzliches Umsteuern
"4" - ausreichend - vergibt der Kinderschutzbund: "Die Schwierigkeiten des Bildungssystems sind nach wie vor eklatant: zu wenige Lehrerinnen und Lehrer, schlechte Infrastruktur, zu wenig qualitativer Ganztag", fasst der Geschäftsführer Daniel Grein die Begründung seiner Benotung zusammen. Dass während der Pandemie ein Fokus auf die Bedeutung von Bildung in der Pandemie und die Belastung der Schülerschaft gerichtet wurde, habe zu keinem grundsätzlichen Umsteuern geführt: "Nicht mal im Thema Digitalisierung von Schule, was in der Pandemie ein großes Thema war, wurden die Potentiale wirklich nachhaltig gehoben."
Kinder, die vorher schon leicht abgehängt wurden, litten am meisten unter der Pandemie und werden das auch weiterhin tun, wie Grein befürchtet: "Das Programm 'Aufholen nach Corona' mag in Einzelfällen unterstützt haben, aber die nötige Veränderung zu einem krisensicheren oder chancengerechten System hat es nicht gebracht."
Ähnlich klingt Doris Lewalter. Sie ist die deutsche Projektleiterin der PISA-Studien und verweist auf aktuelle Studien, wonach pandemiebedingte Leistungseinbußen auch ein Jahr nach Öffnung der Schulen immer noch bestanden. "Hier gehen wir davon aus, dass ein Teil dieser Entwicklung auf die Corona-Pandemie zurückzuführen ist. Das heißt: In puncto Aufholen gibt es durchaus noch einiges zu tun. Insbesondere bei den eher leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern."
DGKJP: Psychische Folgen dauern Jahre an
"4 - 5" - ausreichend bis mangelhaft - und nicht schmeichelhaft: die Note der wissenschaftlichen Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP). Sie begründet das mit Zahlen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung für den ambulanten Sektor: Demnach nahmen phobische Störungen mit der Pandemie um 13,5 Prozent zu, Angststörungen um mehr als 10 Prozent. "Es gibt, wenn auch regional unterschiedlich - einen Mehrbedarf an Therapieplätzen für Kinder und Jugendliche, die im Gefolge der Pandemie psychische Störungen entwickelt haben", konstatiert Renate Schepker, fachpolitische Geschäftsführerin der DGKJP.
"Diese psychischen 'Hintertreffen' werden noch lange brauchen, um ausgeglichen zu sein. Auswirkungen psychischer Natur werden mindestens noch über drei bis vier Jahre bestehen", erwartet Schepker. "Das System ist nicht besser geworden als vor der Pandemie."
Therapeutin: "Erfolg ist personen- und institutionsabhängig"
"3 - 4" - befriedigend bis ausreichend - schreibt Belinda Fuchs der Schulpolitik ins Zeugnis. "Wobei das eine sehr pauschalierte Einschätzung ist: In der Realität bewegen sich die unterschiedlichen Schulen und Schulformen im Spektrum von 1 bis 6." Fuchs ist therapeutische Direktorin am Sprachheilzentrum des Gesundheitszentrums Glantal. Hier werden Kinder mit Entwicklungsstörungen behandelt.
"Die Nachfrage nach Behandlungsplätzen scheint zu steigen", erklärt Fuchs. Durch die Lockdowns und die unterschiedlichen Unterrichtssysteme mit Hybridunterricht oder Wechselunterricht habe sich oftmals die soziale Isolation verstärkt. Psychische Begleitsymptomatiken wie depressive Verstimmungen, Sozialangst oder selbstverletzendes Verhalten treten laut Fuchs gehäuft auf.
"Zum anderen lernen wir Mädchen und Jungen kennen, die aufgrund der Schließungen von Kita und Schule nicht die Möglichkeit hatten, in sozialen Kontakten die notwendige Kommunikationskompetenz zu erwerben." Die schulische Teilhabe könne dadurch gefährdet werden. Die Lücken durch die Lockdown-Phasen seien nicht immer zufriedenstellen abgebaut worden. "Leider ist der Erfolg und Nicht-Erfolg personen- und institutionsabhängig. Es gibt sehr engagierte Pädagoginnen und Pädagogen als auch Schulteams, die hervorragende Arbeit machen und versuchen, die Lücken adäquat aufzuarbeiten. In der Gesamtheit des Bildungssystems wirken die Maßnahmen aber wenig strukturiert und verlässlich in der Breite", schildert Fuchs.
GEW: Zu wenig Maßnahmen gegen Folgen
"Eine gut gemeinte 4" lautet die Note des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE). Und die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) urteilt im Bundesdurchschnitt ähnlich, sieht aber je nach Bundesland von 2 bis 6 alle Noten vertreten: "Da, wo die Länder die Gelder direkt in die Stärkung von Schulen eingesetzt haben, ist es sicherlich gut, zumindest besser gelaufen. Wenn ein Land wie Thüringen mit dem Geld seinen Haushalt saniert, dann ist das schlicht ungenügend", kritisiert GEW-Vorsitzende Maike Finnern und spricht von einer Unverschämtheit gegenüber Kindern und Jugendlichen.
"Problematisch ist, dass viel zu wenig gegen die psychischen Folgen der Corona-Pandemie gerade bei Kindern und Jugendlichen getan wird. Es darf nicht bei der Konzentration auf fachliche Lücken bleiben. Schulen brauchen mehr Schulsozialarbeit, Schulpsychologie muss unbedingt und deutlich ausgebaut werden."
VBE kritisiert mangelnde Einheitlichkeit
Auch der Bundesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) Gerhard Brand stellt fest, dass die Aufholprogramme in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich fruchten: "Einzelne wirken regional sehr gut und es gelingt, Schülerinnen und Schüler nach der Pandemie abzuholen und Bildungsrückstände zu verringern, sowie sozial-emotionale Implikationen abzubauen. In anderen Regionen wiederum gelingt dies nicht." Dass bundeseinheitliche Standards fehlten, verstärke Bildungsungerechtigkeit, anstatt sie abzubauen.
"Wir sind noch lange nicht wieder an einem Zustand angekommen, der mit der Zeit vor Corona vergleichbar ist", resümiert Brand und fügt an: "Uns bereitet große Sorgen, dass die Schulen immer noch nicht für ein vergleichbares Szenario fit gemacht wurden. Eine erneute Pandemie träfe die Schulen wieder mit voller Härte."
Ende des Jahres erscheint die neue "PISA-Studie", die die Leistungen von 15 Jahre alten Schülerinnen und Schülern, aber auch die Rahmenbedingungen des Lehrens und Lernens während der Pandemie in den internationalen Vergleich stellt. Es wird wohl ein herbes Abschlusszeugnis deutscher Schulpolitik in der Disziplin "Aufholen des Corona-Rückstands".