Soldaten sind im Marinestützpunkt Eckernförde beim Rückkehrappell für den Ausbildungseinsatz ·Gazelle· angetreten
analyse

Stellenwert der Bundeswehr In der Mitte der Gesellschaft?

Stand: 20.07.2023 12:36 Uhr

Schon lange fordern Politiker mehr Anerkennung für die Bundeswehr. Seit dem Krieg in der Ukraine hat sich ihr Stellenwert zwar verändert. Aber ist sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen?

Von Kai Küstner, ARD Berlin und Claudia Buckenmaier, ARD-Hauptstadtstudio

Diese Schaufensterdekoration fällt sofort auf: Gegenüber vom S-Bahnhof Friedrichstraße, mitten in Berlin, zwischen Schuhgeschäften und einer Apotheke werben seit März dieses Jahres Hochglanzfotos für eine militärische Laufbahn. Rechts und links von der Eingangstür - Aufsteller in Flecktarn. Die Karrierelounge der Bundeswehr.

Hier stehen sechs Tage die Woche Menschen in Uniform bereit, um über Berufswege beim Militär zu informieren. Mehr als 50 Berufe, heißt es stolz, könne man bei der Bundeswehr erlernen, in militärischen wie in zivilen Bereichen. Zurzeit ist ein großer Teil der Beratungstermine ausgebucht. Die Lounge - einer von vielen Versuchen der Truppe, auf dem hart umkämpften Arbeitsmarkt zu bestehen und Nachwuchs zu finden.

Denn gerade der Nachwuchs - das betont die Wehrbeauftragte der Bundesregierung, Eva Högl, gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio - sei wichtig, um die Bundeswehr in der Bevölkerung zu verankern. "Bei der Personalgewinnung muss darauf geachtet werden, dass Personen aus allen Teilen der Gesellschaft gewonnen werden." Es sei notwendig, dass die Bundeswehr aus der breiten Mitte der Gesellschaft unterstützt und von ihr getragen werde. Der Verweis auf die "breite Mitte" - ein Bild mit Geschichte.

 Die Sonne scheint auf die von der Bundeswehr eröffnete Beachlounge am Strand der Eckernförder Bucht.

Werbung am Strand: In Eckernförde hat die Bundeswehr eine Beachlounge eröffnet, inklusive Karriereberatung.

Keine neue Forderung

Der Satz "die Bundeswehr gehört in die Mitte der Gesellschaft" klingt wie ein Mantra der vergangenen Wochen, stammt aber aus dem Jahr 2011. Der damalige Bundespräsident Christian Wulff warnte vor einer "Gleichgültigkeit" der Deutschen gegenüber ihrer Armee.

Aus triftigem Grund: Hatte sich doch das Empfinden der Soldatinnen und Soldaten von einem Großteil der Gesellschaft weitgehend entkoppelt. Tod, Verwundung, Traumatisierung - die Bundeswehr erlebte in den Jahren ab 2009 mit dem Kampf gegen die Taliban im nordafghanischen Kundus die schwersten Gefechte seit ihrem Bestehen. Gleichzeitig lehnte Umfragen zufolge eine breite Mehrheit der Bevölkerung den Afghanistan-Einsatz ab.

Da sich mit dem als toxisch geltenden Thema keine Wahlen gewinnen ließen, scheuten weite Teile der Politik - und auch die Kanzlerin - eine offene und ehrliche Debatte über den Einsatz. Was bei den am Hindukusch dienenden Soldatinnen und Soldaten die Frage aufwarf, warum sie eigentlich weit weg von zu Hause ihr Leben riskierten?

Christian Wulff im Schloss Bellevue in Berlin

Bundespräsident Wulff warnte vor einer Entkoppelung von Bundeswehr und Gesellschaft.

Lehren aus der Weimarer Republik

Ein weiterer Grund für Wulffs Warnung vor Entkopplung: Im Jahr 2011 hatte die schwarz-gelbe Bundesregierung gerade die Wehrpflicht ausgesetzt. Gegner dieses durchaus bedeutsamen Schritts argumentieren damals wie heute: Wenn nicht wenigstens zur Grundausbildung junge Menschen ihre sozialen Blasen verlassen und sich - aus allen gesellschaftlichen Schichten kommend - in den Bundeswehr-Kasernen begegnen, kann die Einbettung der Truppe in die Gesellschaft nicht gelingen.

Als historisches Horror-Szenario gilt noch immer die Weimarer Republik, als die Reichswehr, vom demokratischen Staat entkoppelt, ein gefährliches Eigenleben als "Staat im Staat" führte.

Eine Dienstpflicht für sozialen "Kitt"?

Nun will kaum ein prominenter Politiker und schon gar keiner aus der Ampelkoalition in Zeitreisenden-Manier zurück ins Jahr 2011 und den Schalter wieder in Richtung herkömmlicher Wehrpflicht umlegen. Doch die Diskussion über ein Jahr im Dienst an der Gesellschaft ist in vollem Gang: Kurz nach seinem Amtsantritt im Januar bezeichnete Verteidigungsminister Boris Pistorius das Aussetzen der Wehrpflicht als "Fehler".

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier brachte wenige Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine eine "Dienstpflicht" ins Gespräch. Also die Idee, dass junge Männer und Frauen nach der Schule wahlweise eine Zeitlang in den Streitkräften dienen oder sich Senioren, Menschen mit Behinderungen oder Obdachlosen widmen.

Genau wie die Wehrbeauftragte argumentiert auch Steinmeier, dass eine solche Zeit als "Kitt" in Zeiten einer auseinanderdriftenden Gesellschaft wirken kann. Auch wenn diese Debatte angesichts der Personalnöte der Bundeswehr so schnell nicht verschwinden wird - ob es je eine Dienstpflicht geben wird, ist fraglich.

Inzwischen versucht man mit anderen Ideen, die Verzahnung der Truppe mit der Gesellschaft zu fördern: Schon die ehemalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer machte sich für mehr öffentliche Gelöbnisse stark. Fast in jedem ICE der Bahn sitzen mittlerweile Soldatinnen oder Soldaten. Sie dürfen die Züge kostenfrei nutzen, vorausgesetzt, sie tragen Uniform. So sollen sie sichtbarer werden.

Im Alltag sichtbar waren Bundeswehr-Angehörige auch als Helferinnen und Helfer während der Pandemie, etwa in Impfzentren oder Behörden.

Bundespräsident Steinmeier steht bei einem Besuch der Gebirgsjägerbrigade 23 neben Soldaten auf dem Übungsplatz Reiteralpe in Bad Reichenhall.

Wenn der Bundespräsident kommt: Steinmeier schaute kürzlich bei den Gebirgsjägern in Bad Reichenhall vorbei.

Zuspruch durch russische Bedrohung

Den vermutlich - und ganz sicher unfreiwillig - größten Beitrag zum Zusammenschweißen der Gesellschaft mit ihren Streitkräften hat jedoch Russlands Präsident Wladimir Putin geleistet: Seit dessen Angriff auf die Ukraine ist die Bedrohung, die auch für Deutschland und die NATO von Moskau ausgehen, für die deutsche Bevölkerung offensichtlicher denn je. Und damit auch die Daseinsberechtigung der Bundeswehr.

Zahlen des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam zufolge befürworteten im Jahr 2013 nur 20 Prozent der Deutschen mehr Geld für Verteidigung und mehr Soldaten für die Bundeswehr.

Bereits nach der Annexion der Krim durch Russland 2014 schnellten die Werte zeitweise in die Höhe, mit dem Jahr 2022 stiegen sie auf fast 60 Prozent. Die Bedrohung durch Russland war nicht mehr nur theoretisch, der vollzogene Schwenk zur klassischen Landes- und Bündnisverteidigung extrem beschleunigt.

Högl fordert umfassende Reformen

Die Wehrbeauftragte Högl weiß, dass der gewachsene Zuspruch zur Bundeswehr mit dem Krieg in der Ukraine zusammenhängt. Sie weiß aber auch, wie schnell sich das wieder ändern kann.

Damit das nicht in sich zusammenfällt, fordert sie umfassende Reformen, ausreichend Geld und gute Ideen. "Es ist wichtig, das Interesse der Gesellschaft an der Bundeswehr und die Unterstützung unserer Soldatinnen und Soldaten hochzuhalten." Dafür brauche es Begegnungen, Diskussionen, Informationen. "Und zwar auch und vor allem für die Zeit nach dem Krieg, wenn hoffentlich in der Ukraine wieder Frieden herrscht."

Kein Geheimnis ist, dass die Truppe weiterhin unter Personalmangel leidet. Und es ist - trotz Zeitenwende - auch nicht absehbar, dass sich daran rasch etwas ändert. Die Karrierelounge der Bundeswehr hat noch viel Arbeit vor sich.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 20. Juli 2023 um 12:00 Uhr.