Autoritarismusstudie "Die Bereitschaft andere abzuwerten steigt"
Die Zahl der Menschen mit einem geschlossen rechtsextremen Weltbild sinkt, zeigt eine Studie. Gleichzeitig nehmen antidemokratische Einstellungen zu. Woran das liegt und welchen Einfluss Krisen haben, erklärt Demokratieforscher Decker im Interview.
tagesschau.de: Sie forschen seit Jahren zu autoritären und rechtsextremen Einstellungen in der Gesellschaft. Was hat sich im Laufe der Zeit verändert?
Oliver Decker: Wir haben zum Teil gute Nachrichten. Das betrifft rechtsextreme Einstellungen: Insbesondere neonationalsozialistische Ideologien mit ihren Merkmalen wie Diktatur-Befürwortung, Sozialdarwinismus und ähnliches sind massiv zurückgegangen in der Bundesrepublik, insbesondere in Ostdeutschland.
Wir haben nur noch zwei Prozent, die tatsächlich allen Aussagen unseres Fragebogens zustimmen. Nur bei denen sprechen wir von einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild. Diese Nachricht ist aber nur das halbe Bild. Gleichzeitig ist eine ganze Reihe von anderen antidemokratischen Einstellungen gestiegen.
tagesschau.de: Das heißt, die Problemlage verschiebt sich.
Decker: Ja, wir können sehen, dass zum Beispiel die Ausländerfeindlichkeit in Ostdeutschland trotz allem Rückgang weiter gestiegen ist. Ein Drittel der Bevölkerung stimmt diesen Aussagen nun zu. Ich nenne mal ein Beispiel: "Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maße überfremdet." Das befinden 38,4 Prozent der Ostdeutschen für zustimmungsfähig. Im Westen sind es gerade mal 22,7 Prozent.
Im Osten waren es vor zwei Jahren etwas mehr als 25 Prozent. Und das betrifft nicht nur diese Abwertung von Ausländern im Allgemeinen. Es gibt auch einen massiven Anstieg der Muslimfeindlichkeit, des Antiziganismus, auch Teile des Antisemitismus, der Schuldabwehr, sind gestiegen. Auch Sexismus und Antifeminismus sind angestiegen, was sehr interessant ist unter Pandemie-Bedingungen. Plötzlich wächst der Wunsch wieder, Frauen mögen doch zu Hause am Herd bleiben und dem Mann den Rücken freihalten.
tagesschau.de: Wenn man sich diese Ergebnisse anschaut: Welchen Einfluss haben die aktuellen Krisen darauf?
Decker: Die Krisen haben erstaunlicherweise in den letzten zwei Jahren in der Breite der Bevölkerung zu einer Akzeptanz des demokratischen Systems geführt. Die verfassungsgemäße Ordnung in der Bundesrepublik hat noch nie so viel Zustimmung erfahren, über 90 Prozent auch im Osten derzeit. Gerade in akuten Krisen ist der Unterschied zu autoritären, autokratischen Herrschern offensichtlich. Gleichzeitig ist das Erleben einer demokratischen Wirksamkeit sehr gering. Die wenigsten Leute halten es für sinnvoll, sich zu engagieren.
- Bürgerinnen und Bürger stehen mit großer Mehrheit hinter der Demokratie, der "harte Kern" antidemokratischer Milieus wird kleiner.
- Allerdings sind nur sechs von zehn Befragten mit den gelebten demokratischen Prozessen zufrieden.
- Die Zahl der Personen mit einem geschlossen rechtsextremem Weltbild nimmt ab - bei gleichzeitiger Verfestigung extremistischer Milieus.
- Ausländerfeindliche Einstellungen verharren auf hohem Niveau.
- Weit verbreitet sind zudem antifeministische und sexistische Einstellungen - nicht selten gehen sie einher mit anderen Ressentiments wie etwa Homo- und Transfeindlichkeit.
tagesschau.de: Wenn man auf solche Ergebnisse schaut, ist oft von der Spaltung der Gesellschaft die Rede. Sehen wir das in den Studienergebnissen?
Decker: Wir haben es mit einer Verschiebung der antidemokratischen Einstellungen zu tun. In der Breite der Bevölkerung haben antidemokratische Einstellungen Akzeptanz gewonnen, die nicht mehr ausdrücklich rechtsextrem sind, die aber eben auch für Rechtsextreme anschlussfähig sind. Eben diese Abwertung anderer, das gehört zu einem Element rechtsextremer Einstellungen, ist aber eben auch eine Brückenideologie in die Breite der Bevölkerung. Das hat weniger mit eindeutiger Polarisierung zu tun, sondern mit einer Fragmentierung der Gesellschaft entlang unterschiedlicher Konfliktlinien. Die Bereitschaft zur Polarisierung bei allen möglichen Fragen wächst ständig.
Rechtsextreme versuchen genau da, Anschlussstellen zu finden. Und das tun sie auch, weil im Grunde genommen die Demokratie und der demokratische Zusammenhalt durch diese beständige Bereitschaft zur Fragmentierung und Abwertung anderer tatsächlich bedroht ist. Es gibt nicht mehr eine gemeinsame Basis, sondern es ist sehr viel mehr die Bereitschaft da, die Kommunikation mit anderen aufzukündigen. Und das führt auch zu Erfolgen der extremen Rechten oder der AfD.
tagesschau.de: Das heißt, der gesellschaftliche Zusammenhalt schwindet und extremistische Einstellungen werden anschlussfähig?
Decker: Momentan sehen wir sehr stark, dass es einen Wunsch gibt, zu einer Gruppe zu gehören, die positiv bewertet ist, und eine andere abzuwerten. Diese Befunde lassen sich an unterschiedlichen Konfliktlinien ausmachen. Das kann Impfen/Nicht-Impfen sein. Das kann sein, dass Menschen abgewertet werden wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung. Die Bereitschaft, andere abzuwerten, ist gestiegen. Mit Sicherheit ist das Internet hier auch ein Treiber im Hintergrund.
tagesschau.de: Wie kann man den gesellschaftlichen Zusammenhalt wieder stärken?
Decker: Wir sehen einerseits diejenigen, die sich in den letzten zwei Jahren nicht impfen lassen haben. In dieser Gruppe werden Verschwörungsideologien breit geteilt, aber auch sehr stark andere Abwertungen.
Aber wir haben es andererseits auch mit einer zunächst unauffälligen Gruppe innerhalb der Mehrheitsgesellschaft zu tun. Sie ist sogar noch größer und hat autoritäre Aggressionen. Sie haben den Wunsch, die Ungeimpften mögen hart bestraft werden. Interessanterweise teilen sie mit der anderen Gruppe die Bereitschaft, andere abzuwerten. Nur die Verschwörungsmentalität ist deutlich geringer.
Um Lösungen für diese antidemokratischen Reaktionen zu finden, müssen wir überlegen, unter welchen Bedingungen die Menschen leben und arbeiten. Was hat sich verschärft in den letzten Jahren? Es war unter Pandemie-Bedingungen gut, dass die Exekutive für eine gewisse Zeit gestärkt worden ist. Das hat auch Akzeptanz verschafft. Andererseits führt es wiederum dazu, dass demokratische Aushandlungsprozesse in den Hintergrund treten. Und das tun sie im Grunde genommen im Alltag, in den meisten Institutionen, Schulen, Universitäten, Betrieben auch vor und nach der Pandemie. Das verschärft die Konfliktlage und schafft nicht die Erfahrung, wie Demokratie funktioniert und dass sie auch erfolgreich funktionieren kann.
Das Interview führte Konstantin Kumpfmüller, tagesschau.de. Es wurde für die schriftliche Version redaktionell bearbeitet.
Anmerkung der Redaktion: Die Werte zur Zustimmung zu der Aussage "Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maße überfremdet" wurden nachträglich korrigiert. Wir bitten die zunächst ungenaue Angabe zu entschuldigen. Die Studienergebnisse im Detail finden Sie hier.