Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte "Feindbilder bieten Scheingewissheiten"
Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, Drohungen und Schmierereien: In Krisenzeiten bieten Feindbilder Scheingewissheiten, sagt der Soziologe Zick im Interview mit tagesschau.de. Ein ostdeutsches Problem sei das aber nicht.
tagesschau.de: Drohungen, Hakenkreuzschmierereien und zuletzt auch Brandanschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte in Bautzen und Groß Strömkendorf: Woher kommt diese Feindseligkeit gegenüber Geflüchteten?
Andreas Zick: Die Hasstaten passieren zum großen Teil an Orten, wo vorher schon Gruppen solche Taten verübt haben. Das heißt dort, wo sich eine radikalisierte rechte Kultur gebildet hat, ist die Wahrscheinlichkeit bereits hoch gewesen und jetzt noch einmal deutlich angestiegen.
Studien, die in Bautzen durchgeführt wurden, zeigen zum Beispiel, dass sich dort rechtsextreme wie auch neurechte Milieus verankert haben. Es bilden sich Traditionslinien vom Rechtsextremismus der 1990er-Jahre über den rechtsradikalen Widerstand gegen Immigration im Zuge der Fluchtzuwanderung 2015 bis zu den Corona-Protesten, die auch das Thema Zuwanderung aufgenommen haben.
In Krisenzeiten stellen rechte Gruppen schnell eine Verbindung zur Migration her. Das hat in der Regel wenig mit Frustrationen oder echten Benachteiligungen zu tun, sondern mit einer nationalistischen Ideologie: Wer gehört zum Land und wem steht was zu? Wir sollten nicht vergessen, dass die Feindseligkeit gegenüber Eingewanderten oder jenen, die von rechten Gruppen als "fremd" erklärt werden, zum Kern rechtsextremer Ideologie gehört. Und Splitter solcher Ideologien greifen auch im Rechtspopulismus. So können die Bedrohungsmythen in Krisensituationen schnell aktiviert werden. Erschwerend kommt dazu, dass in der Mitte der Gesellschaft nationalchauvinistische Ideen schnell greifen.
Andreas Zick ist Direktor des Instituts- für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld. Seine Forschung befasst sich schwerpunktmäßig mit innergesellschaftlichen Konflikten und Prozessen der Radikalisierung
tagesschau.de: Mit Corona, dem Krieg gegen die Ukraine und den rasant steigenden Lebenshaltungskosten überlagern sich derzeit mehrere Krisen. Welche Rolle spielt die gesellschaftliche Stimmung?
Zick: Krisen sind Momente, in denen die Ungewissheit zunimmt, Menschen nicht wissen, wohin die Reise geht, Rituale nicht mehr greifen. Das sind Momente, wo es radikalisierte Gruppen leicht haben, ihre Wahrheitsmythen als Gewissheiten anzubieten.
Vorurteile, menschenfeindliche Meinungen, Feindbilder und rassistische Ideologien bieten Scheingewissheiten. Die können eingedämmt werden, wenn Gegenmodelle von Solidarität, Toleranz, Zusammenhalt und Gemeinsinn Bedrohungswahrnehmungen bremsen. Aber genau das ist schwierig, wenn jene, die solche Modelle anbieten, schon vorher als Feinde inszeniert werden: als korrupte Eliten, als Volksfeinde, Fremde und so weiter.
Das Problem ist also, dass das Land, wie auch andere Länder, mit einem hohen Ausmaß an nationalem Populismus und voller Feindbilder in die Krise geht und es parallele Gemeinschaften gibt, die schwer zu erreichen sind. Es braucht besonderer Anstrengungen an Prävention und Intervention gegen Hass- und Feindbilder und gute Kommunikation darüber, warum Krisen durch Herabwürdigungen, Diskriminierungen und Hasstaten das Land instabiler machen.
tagesschau.de: Größere Proteste und auch Anfeindungen finden derzeit vor allem in Ostdeutschland statt. Wie erklären Sie sich den Unterschied zum Westen?
Zick: Im Osten haben sich über die Jahre radikale Kulturen stärker bilden können - auch wenn das alles kein ostdeutsches Problem ist. Die Gründe sind sehr vielfältig. Es wird aber offensichtlich, dass dort Rechtsextreme leichter mit der Mitte ein Arrangement auf Demos finden. Es zeigt sich, dass dort leichter rechte Gruppen an historische Erinnerungen der Wende anknüpfen können, dass sogar Rechtspopulisten Zeichen und Symbole der Friedensbewegung okkupieren können. Hinzu kommt die Erinnerung an den Zusammenbruch der DDR - mit den Erfahrungen von Opfer und dem Bild, Bürger zweiter Klasse zu sein. "Wir-Zuerst"-Kampagnen greifen besser.
In unseren Daten zeigt sich, dass dort, wo radikale und extremistische Gruppen länger verankert sind, Menschen denken, dass diese Gruppen oder Parteien so sind wie alle anderen auch. Es kommt zu einer Verschiebung von Normalität.
tagesschau.de: SPD-Vorsitzende Saskia Esken wirft CDU-Chef Friedrich Merz wegen seiner Aussagen zu "Sozialtourismus" vor, mitverantwortlich zu sein "für Hass und Hetze, die später in Gewalt mündet". Welche Rolle spielen Äußerungen von Politikern?
Zick: Äußerungen von Politikerinnen und Politikern, die stereotyp und vorurteilsvoll sind, landen heute sehr schnell in den sozialen Medien und werden dort zur Emotionalisierung radikaler Kommunikation und Kampagnen verwendet. Das sollten Politiker bedenken und da hilft es am Ende nicht, wenn sie sagen, das sei nicht so gemeint gewesen.
Das Bild steht in einer Tradition und kann daher leicht in Geschichten von "Sozialschmarotzern" oder ähnlichem eingebaut werden. Die einfache Verbindung, dass solche stereotypen Bilder in Gewalt münden, ist im politischen Diskurs zwar verständlich, aber funktioniert so nicht. Zur Gewalt kommt es erst, wenn Gruppen das als Anlass nehmen, gezielt zur Gewalt aufzurufen. Gerade in Krisenzeiten braucht es mehr Sensibilität bei der Frage, ob bestimmte Gruppen hervorgehoben werden oder nicht.
tagesschau.de: Auch 2015 war die Hilfsbereitschaft zunächst groß. Später kippte mancherorts die Stimmung. Es kam es zu einer Welle von Angriffen auf Geflüchtete und deren Unterkünfte. Welche Lehren kann man aus der Situation nach 2015 ziehen?
Zick: Es wäre gut, wir würden mehr Lehren daraus ziehen. Denn die Kriminalstatistik zeigt, dass die ideologisch motivierten Straftaten wieder angestiegen sind; im Übrigen im Bereich der nicht genau oder einfach zu benennenden Ideologien, die sich im Zuge der Pandemie gebildet haben. Dazu gehören Verschwörungsmilieus, dazu gehören Milieus in der Mitte, die sich als rebellisch verstehen, aggressive "Querdenker"-Gruppen und viele andere, die meinen, sich im Widerstand gegen Staat und Eliten zu bewegen.
Die Gewalttaten haben damals gezeigt, dass Hass- und Gewaltprävention, lokales Konfliktmanagement, Formen dezentraler Unterbringung und eine kluge Arbeit zwischen Unterkünften, Ehrenamt, Zivilgesellschaft und kommunalen Behörden hilfreich ist. Die Erfahrung hat auch gezeigt, dass wir mehr in zivilgesellschaftliche Bildung investieren können. Solidarität, Toleranz, Gemeinsinn und Zusammenhalt sind etwas, was Generationen immer wieder neu erlernen können. Das fällt nicht vom Himmel und realisiert sich nicht, weil wir in Demokratien dazu verpflichtet werden. Wenn Menschen ihre Würde in bestimmten Räumen verlieren und angegriffen werden, dann müssen diese Räume so umgebaut werden, dass die Würde garantiert wird.
Das Interview führte Konstantin Kumpfmüller, tagesschau.de