Olaf Scholz beobachtet eine Fähigkeitsdemonstration der Territorialen Verfügungsgruppe.
interview

Deutsche Sicherheitspolitik Konflikte managen statt lösen

Stand: 16.02.2024 10:55 Uhr

Die Welt tritt in eine Phase, in der es darum geht, Konflikte zu managen, sagt Sicherheitsforscher Tobias Fella im Interview mit tagesschau.de. Die deutsche Debatte um die Unterstützung der Ukraine war aus seiner Sicht etwas schrill.

tagesschau.de: Seit 2011 ist in Deutschland die Wehrpflicht ausgesetzt. Symbolisch stand das für eine Gesellschaft, die sich mit Krieg nicht mehr auseinandersetzen wollte. Nun gibt es die "Zeitenwende", die Politik diskutiert über das Zwei-Prozent-Ziel der NATO und sogar über eine nukleare Aufrüstung in Europa. Was hat sich in der Zwischenzeit geändert?

Tobias Fella: Wenn man so möchte, ist die Geschichte zurückgekehrt. Die Beziehungen zwischen den Großmächten sind von Kooperation auf Konfrontation gewechselt. In Europa findet der erste große Landkrieg nach dem Zweiten Weltkrieg statt. Im Mittleren und Nahen Osten hat sich der Krieg zwischen Israel und der Hamas zu einem Regionalkonflikt ausgeweitet.

Während in Asien eine militärische Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten und China nicht auszuschließen ist und das Szenario einer möglichen zweiten Trump-Präsidentschaft auch unter US-Verbündeten eine Art nukleare Nervosität befeuert hat.

"Mit Machtverschiebungen können Kriege einhergehen"

Historisch betrachtet ist es nicht ungewöhnlich, dass mit Machtverschiebungen, wie wir sie heute von der euroatlantischen in die indopazifische Region sehen, Spannungen, Missverständnisse, Rüstungswettläufe und Kriege einhergehen können. Auch ist es möglich, dass zuvor scheinbar allgemeingültige Normen ihre Bindekraft verlieren. Ich denke, das ist die wirkliche Zeitenwende, das einsetzende Bewusstsein, dass viele Dinge, die lange selbstverständlich wahrgenommen wurden, letztlich machtabhängig sind.

"Ziel, militärische Eskalationen zu verhindern"

Im Ergebnis geht es heute nicht so sehr um die Auflösung von Konflikten, sondern um ihre Einhegung auch mit dem Ziel, militärische Eskalationen zu verhindern, bei denen schlimmstenfalls Atomwaffen zum Einsatz kommen können.

Konkret an der Bundeswehr sehen wir die Zeitenwende daran, dass sich ihr Fokus wieder auf Aufgaben der Landes- und Bündnisverteidigung verschoben hat, nachdem über viele Jahre hinweg Auslandseinsätze wie Afghanistan oder Mali im Vordergrund standen. Das schlägt sich dann auch auf die Aufstellung der Truppe nieder. Für die Abschreckung einer und das Gefecht mit einer Großmacht sind andere Fähigkeiten notwendig, als bei Missionen der Friedenssicherung oder bei der Bekämpfung von Aufständischen.

Tobias Fella
Zur Person
Tobias Fella ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg. Er forscht zu den Bedingungen der nuklearen Rüstungskontrolle in einer Zeit von Großmachtrivalität mit einem Fokus auf den USA, Russland und China.

"Eine neue Situation"

tagesschau.de: In der Bundesrepublik gab es eine lange Geschichte militärischer Zurückhaltung nach dem Nationalsozialismus. Sehen wir seit Beginn des Ukrainekriegs den Bruch damit?

Fella: Die Zurückhaltung ist noch spürbar, auch bei den Waffenlieferungen. Momentan ist es der stark wirkende geopolitische Kontext, der die Veränderungen herbeiführt, von China über Trump bis zum Ukrainekrieg. Es ist einfach eine neue Situation.

tagesschau.de: Ist die aktuelle Debatte ein Schritt hin zu einer langfristig neuen Sicherheitspolitik oder ist sie eine kurzfristige Reaktion auf die aktuelle Lage?

Fella: Aus meiner Sicht ist eine längerfristige Veränderung spürbar. Wir erkennen diese zum einen auf der rhetorischen Ebene, daran, wie selbstverständlich heute über Verteidigung und Abschreckung debattiert wird.

Daran, dass Begriffe wie "Kriegstüchtigkeit" die Debatte durchdringen und auch Forderungen zirkulieren, bei denen es unter anderem darum geht, die Ukraine in die Lage zu versetzen, weitreichendere militärische Schläge in und gegen Russland durchzuführen, etwa Ministerien und Kommandoposten ins Visier zu nehmen.

Zum anderen finden große Investitionen in die Bundeswehr statt. Es wird für einen größeren Krieg geplant, geübt und Gerät erworben. Und das alles schafft natürlich auch Pfadabhängigkeiten und Strukturen, die sich nicht so einfach über Nacht wieder ändern lassen.

Tobias Fella, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, zur Diskussion über Atomwaffen in der EU

tagesschau24, 15.02.2024 14:00 Uhr

"Käufe von Rüstungsgütern sollten immer geprüft werden"

tagesschau.de: Ist die deutsche Gesellschaft bereit dafür, sich mit dem Szenario eines Kriegs auseinanderzusetzen?

Fella: Das tut sie bereits. Eine Mehrheit der Bevölkerung steht hinter der Zeitenwende. Ferner wird verstärkt über den Zivilschutz nachgedacht. Es gibt nach wie vor Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine und Proteste gegen die Politik der Bundesregierung.

Dazu kommt, dass nicht nur Bundes- und Fachpolitiker zum Szenario eines Krieges und zu seinen Folgen diskutieren, sondern auch Lokalpolitiker und die breite Öffentlichkeit. Schließlich ist der Krieg weiter medial stark präsent und das zeugt von einer hohen Gewichtung des Themas.

Dabei ist eines wichtig: Den Krieg zu denken, heißt nicht dem Frieden oder der Kritik zu entsagen. Käufe von Rüstungsgütern sollten immer darauf geprüft werden, ob und wieweit sie zur Sicherheit des Bündnisses und Deutschlands beitragen, ob sie notwendig sind oder welche Rolle die Interessen einer gewinnorientierten Rüstungsindustrie spielen.

"Führung heißt auch, Nein zu sagen"

tagesschau.de: Kommt Ihnen das im Moment zu kurz?

Fella: Ich habe ein bisschen Probleme mit der deutschen politischen Debatte. Wir sehen das unter anderem an den Auseinandersetzungen über die deutsche Führungsrolle in Europa. Deutschland hat diese in den vergangenen Monaten zusehends angenommen, es ist nach den USA der zweitstärkste Unterstützer der Ukraine und schreitet auch dadurch voran, dass es zu einer stärkeren Unterstützung der Ukraine anmahnt.

Die Debatte hierzulande war etwas schrill. Die Unterstützung der Ukraine ist kein Überbietungswettbewerb und mit Risiken behaftet. Die Abstimmung ist wesentlich, weil den USA eine zentrale Funktion für die europäische Sicherheit zukommt und weil die Herstellung von Geschlossenheit auch kein Selbstgänger ist.

Zuletzt muss Deutschland auch immer überprüfen, inwiefern sich seine Interessen mit denen auch von Partnern decken. Es ist auch richtig, dass man sich da nicht immer treiben lässt. Führung heißt auch, Nein zu sagen.

Ich habe das Gefühl, dass wir nach dem Kriegsbeginn sehr oft viel Meinung hatten und wenig Analyse. Auch von Experten und Expertinnen erwarte ich, dass sie nicht als Fahnenträger einer Mission auftreten, sondern als Personen, die Kontextwissen vermitteln und zum Nachdenken anregen. Alles andere bildet dann doch eher Spaltungen der Gesellschaft ab oder reproduziert sie.

"An der Schwelle zu einem neuen nuklearen Wettrüsten"

tagesschau.de: Es gibt internationale Abkommen, die auf nukleare Abrüstung ausgelegt sind. Warum spricht Europa jetzt über Aufrüstung?

Fella: Es gibt ja den Zwei-plus-Vier-Vertrag, also die Einigung, mit der sich Deutschland festgelegt hat, dass es keine Atomwaffen besitzen wird. Das ist klar. Und es gibt auch einen globalen Nichtverbreitungsvertrag. Man muss auch immer schauen, dass man nicht zu einer Proliferation von Atomwaffen beiträgt.

Wir haben den Iran, der, sollte er sich dazu entscheiden, wahrscheinlich in relativ kurzer Zeit eine Atombombe bauen könnte. Dann ist die Frage, was Saudi-Arabien macht. Das ist der Kontext, der mitzudenken ist. Die ganze Architektur an Rüstungskontrollverträgen und Transparenzmaßnahmen, die im Kalten Krieg und auch danach aufgebaut wurde, ist in den vergangenen Jahren weitgehend erodiert.

Wir befinden uns in einer Situation, in der die Welt an der Schwelle zu einem neuen nuklearen Wettrüsten steht, an der Schwelle zu konventioneller und nuklearer Instabilität. Deswegen geht es jetzt sehr stark um Risikoreduzierung. Darum, eine unbeabsichtigte Eskalation zu verhindern. Und deswegen ist auch Dialog notwendig.

Es ist ein Paradox. Einerseits erhöht der geopolitische Wandel die Nachfrage nach Rüstungskontrolle. Andererseits erschwert er sie aber auch, weil so vieles gleichzeitig stattfindet.

Im Kalten Krieg hat die nukleare Rüstungskontrolle zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion beziehungsweise Russland stattgefunden. Und jetzt haben wir eben auch China, das nuklear aufrüstet. Das heißt, der Prozess wird komplizierter - und von russischen Vorschlägen auch Frankreich und Großbritannien in Gespräche einzubeziehen, haben wir noch gar nicht gesprochen.

Kurzum: Wir treten einfach in eine sehr, sehr heikle Phase ein. Und wir können nur hoffen, dass es keine neue Kubakrise braucht, um wieder zu mehr Dialog und Berechenbarkeit zu kommen.

"Auch immer die Konsequenzen mitdenken"

tagesschau.de: Was ist in diesem veränderten geopolitischen Umfeld Ihre Erwartung an die Bundesregierung?

Fella: Es muss darum gehen, noch klarer zu schildern, wie die Situation ist, dass wir in eine Zeit getreten sind, in der es vor allem darum geht, Konflikte zu managen, nicht darum, sie zu lösen. Es muss darum gehen, sich auf verschiedene Szenarien vorzubereiten. Dazu kann auch gehören, wie eine nukleare Abschreckung ohne die USA funktionieren kann und ob beziehungsweise bis zu welchen Grad sie überhaupt nötig ist. Schließlich rate ich dazu, bei Entscheidungen, zum Beispiel für Rüstungsgüter, auch immer die Konsequenzen mitzudenken.

Ich glaube, es ist wesentlich, dass die außenpolitische Debatte auch innenpolitisch rückgekoppelt wird, weil der gesellschaftliche Zusammenhalt brüchig geworden ist. Das sehen wir von Marine Le Pen in Frankreich bis Georgia Meloni in Italien, von der AfD bis in die USA mit Donald Trump. Und daraus ergeben sich Angriffsflächen, die auch andere Länder ausnutzen können.

Der geforderte sicherheitspolitische Wandel setzt voraus, dass wir in Deutschland, in Europa und in den USA gesellschaftliche Spaltungen zumindest ein bisschen kitten können. Sonst ist nicht klar, wohin uns die viel beschworene Zeitenwende letztlich führen wird.

Das Gespräch führte Belinda Grasnick, tagesschau.de.