Ärzte unter Zeitdruck Medizin im Hamsterrad
Ärztinnen und Ärzte in Deutschland haben deutlich weniger Zeit im Sprechzimmer als in vielen anderen europäischen Ländern. Das beeinträchtigt auch die medizinische Versorgung. Wie kann es besser gehen?
Hört der Arzt zu? Oder läuft es in der Sprechstunde eher wie am Fließband: "Rein, Diagnose, zack, raus, der Nächste bitte!" Für jede Patientin und jeden Patienten blieben in Deutschland 2002 laut einer Studie der Cambridge University im Schnitt 7,6 Minuten - weit weniger als in den meisten anderen europäischen Ländern.
Wenn mit Patientinnen und Patienten in einer Praxis nicht richtig gesprochen wird, kann das schwerwiegende Folgen haben: Erkrankungen werden übersehen, Therapieempfehlungen nicht richtig umgesetzt.
Millionen Deutsche beklagen Zeitmangel beim Arzt. Gut ein Fünftel der Bundesbürger meint, der Arzt habe ihrem Anliegen nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Bei den jüngeren Patientinnen und Patienten bis 34 Jahre ist es sogar jeder Dritte. Das geht aus einer Untersuchung von Infratest dimap im Auftrag der ARD hervor.
An manchen Tagen über 50 Patienten
"Ich sehe mich in der Pflicht, jetzt muss gehandelt werden", kommentiert Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach das Ergebnis der Umfrage. "Die sogenannte Sprechende Medizin ist kein Luxus, sondern einfach eine bessere Medizin."
Ärztinnen und Ärzte würden ihren Patientinnen und Patienten gern mehr Zeit widmen. Aber wie soll das gehen? Hausarzt Stefan Graafen im hessischen Flörsheim betreut an manchen Tagen mehr als 50 Patientinnen und Patienten. Er wisse nicht, wie man das noch steigern solle. Nach der Sprechstunde kämen noch zwei Stunden Bürokratie dazu, jeden Tag, erzählt Graafen.
Hausarzt Stefan Graafen hat wenig Zeit für seine Patientinnen und Patienten.
Der Bürokratiedindex der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zeigt: 2020 fraß Bürokratie 61 Arbeitstage pro Jahr und Praxis - bei 251 Werktagen entspricht das 24 Prozent der Arbeitszeit. Zeit, die Hausarzt Graafen lieber den Kranken widmen würde.
Ferdinand Gerlach, ehemaliger Vorsitzender des Sachverständigenrat Gesundheit, liefert seit Jahren seine Analyse des Problems: Die Deutschen gehen viel zu oft zum Arzt, und oft auch zum falschen. Schuld sei unter anderem das Abrechnungssystem nach Quartalen, das den Anreiz setze, jede Patientin und jeden Patient einmal pro Quartal einzubestellen - und die freie Arztwahl. Patientinnen und Patienten landeten so oft bei den falschen Fachärztinnen und -ärzten, würden über- und fehlbehandelt. Gerlach fordert eine bedarfsgerechte Versorgung.
Projekt in Baden-Württemberg
Wie man die verlorene Zeit im Sprechzimmer zurückgewinnen kann, zeigt ein Projekt im Südwesten: Orthopäde Burkhard Lembeck aus Ostfildern bei Stuttgart ist Teil eines landesweiten Netzwerks von Haus- und Fachärztinnen und -ärzten, die in einem speziellen Vertrag mit der AOK Baden-Württemberg deutlich mehr Zeit fürs Sprechen bezahlt bekommen.
Seine Abrechnung ist denkbar einfach. Die Hausärztinnen und -ärzte sorgen dafür, dass zu ihm nur die orthopädisch relevanten Fälle kommen. Für diese Patientinnen und Patienten hat er dann mehr Zeit.
Zu Orthopäde Burkhard Lembeck kommen nur Patientinnen und Patienten mit orthopädisch relevanten Fällen.
Das Programm der AOK Baden-Württemberg mit dem Namen "Neue Versorgung" wurde von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universitäten Frankfurt/Main und Heidelberg über mehrere Jahre evaluiert - mit positiven Ergebnissen: Im Vergleich zu Patientinnen und Patienten in der Regelversorgung gibt es weniger Krankenhausaufenthalte, weniger Operationen, weniger Schmerzmittel und sogar weniger Todesfälle bei Chronikern.
"Wenn diese Hausarzt-zentrierte Versorgung ein Medikament wäre, dann wäre das ein Blockbuster, dann würde das jeder nehmen", meint Nicola Buhlinger-Göpfarth, Vorsitzende des Hausärzteverbands Baden-Württemberg.
Probleme mit der Selbstverwaltung
Das Programm läuft seit mehr als zehn Jahren - warum hat es sich nicht längst in ganz Deutschland durchgesetzt? Gesundheitsminister Lauterbach verweist im ARD-Interview auf die Zuständigkeit der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen: "Es ist nicht so, dass ich ein Gesetz machen müsste, das es erlaubt, die Abrechnung anders zu gestalten. Das ist nicht der Fall. Die Gesetze sind da, aber tatsächlich begegnen sich die Partner der Selbstverwaltung oft mit einem bestimmten Misstrauen. Das ist nicht schön."
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sieht Probleme bei der Selbstverwaltung in der Medizin.
Die Partner der Selbstverwaltung, also Krankenkassen auf der einen und Kassenärztinnen und -ärzte auf der anderen Seite, sehen die Verantwortung beim jeweils anderen. Florian Lanz, Pressesprecher der Gesetzlichen Krankenversicherungen GKV, sieht ein innerärztliches Verteilungsproblem. Er sagt gegenüber der ARD, die gesetzlichen Krankenversicherungen zahlten jedes Jahr 45 Milliarden Euro für die Arzthonorare an die Kassenärztlichen Vereinigungen.
"Da verdienen sehr viele Leute sehr viel Geld mit", so Lanz. "Und es gibt großen Druck, große Interessensgruppen, die immer wieder versuchen, irgendwie mehr aus diesem Topf zu holen."
Mehrere Gesetzesvorhaben
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung weist den Vorwurf zurück und beklagt gegenüber der ARD, "dass die Krankenkassen immer weniger bereit sind, ausreichende Finanzmittel für die ambulante Versorgung ihrer Versicherten zur Verfügung zu stellen".
Lauterbach arbeitet an mehreren Gesetzesvorhaben, die zumindest etwas mehr Zeit ins Sprechzimmer zurückbringen könnten: "Entbürokratisierung, mehr Ärztinnen und Ärzte, Digitalisierung. Das System der Selbstverwaltung wird moderner. Ich habe dann mehr Zeit für den Patienten. Davon verspreche ich mir eine Menge."
Die ARD Story "Hört Dein Arzt Dir zu? Keine Zeit für Kranke" läuft heute Abend um 22.50 Uhr im Ersten.
In einer früheren Version des Artikels hieß es, für jede Patientin und jeden Patienten in Deutschland blieben der Cambridge-Studie zufolge im Schnitt 7,6 Minuten im Sprechzimmer. Wir haben den Satz um die Angabe ergänzt, dass die Daten der Studie aus dem Jahr 2002 stammen.
Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen