Ein Jahr nach Merkels "Wir schaffen das" "Die Motivation ist immer noch hoch"
Vor einem Jahr hatte die Kanzlerin der Flüchtlingskrise ihr "Wir schaffen das" entgegengehalten. Viele der Helfer in Deutschland glauben weiter daran. Ihre Aufgaben haben sich im vergangenen Jahr geändert, die Motivation ist geblieben.
Das Gefühl, es nicht zu schaffen, beschlich sie selten. Aber wenn es sie traf, dann mit voller Wucht. Julia Lücke erinnert sich an den Moment, in dem sie einer syrischen Familie helfen sollte, auf Fotos im Internet den enthaupteten Vater zu identifizieren. Sie erinnert sich, wie ihr eine junge Mutter im Detail schilderte, wie ihr Kind im Mittelmeer ertrank. Trotzdem hat Lücke nie ans Aufhören gedacht.
"Ich bin doch selbst ein Flüchtlingskind. Und meine Familie ist das beste Beispiel für gelungene Integration", sagt sie. Ihr Vater floh vor vielen Jahren vor den Kommunisten aus Griechenland. Seit Beginn der Flüchtlingskrise arbeitet Lücke in Wesseling bei Köln in einer Notunterkunft der Malteser. 500 Flüchtlinge lebten hier in Containern, inzwischen sind sie auf verschiedene Kommunen verteilt worden. Gerade werden die Container in permanente Unterkünfte umgebaut.
Neue Aufgaben
"Unsere Aufgaben verschieben sich gerade stark. Statt auf Unterstützung bei der Essensausgabe und in der Kleiderkammer kommt es jetzt vor allem auf die Hilfe bei der Integration an. Das fängt mit der Begleitung bei Behördengängen an und geht über Deutschkurse bis hin zur Wohnungssuche." Lücke ist bei den Maltesern für die Koordination der ehrenamtlichen Helfer zuständig. Heute hat sie eine ziemlich bunte Mischung an ihrem Tisch zusammengebracht, an dem sie griechische Köstlichkeiten serviert.
Ein Fußballtrainer des örtlichen Vereins stärkt sich mit gefüllter Paprika für einen Kick mit drei Kindern aus Nigeria. Ein junger Afghane erzählt seiner Deutschlehrerin, wie er in seiner Heimat wegen wechselnder Liebesbeziehungen verfolgt wurde. Eine Rentnerin fiebert mit einem jungen Mann aus Syrien der Antwort eines Vermieters entgegen, dessen Wohnung sie zuvor gemeinsam besichtigt haben. Und "obwohl die Anforderungen an unsere ehrenamtlichen Helfer gestiegen sind, ist die Motivation immer noch enorm hoch", sagt Lücke.
Was sie aus Köln-Wesseling berichtet, scheint für weite Teile Deutschlands zu gelten. Laut einer gerade erschienenen Studie des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt-Universität Berlin ist sich die Mehrheit der Ehrenamtlichen einig, dass Deutschland durch die verstärkte Ankunft von Geflüchteten im Herbst 2015 nicht überfordert gewesen sei.
Gesellschaft im Kleinen verändern
Viele ehrenamtliche Helfer teilen auch denselben gesellschaftspolitischen Anspruch: Die überwiegende Mehrheit der Befragten möchte mit ihrem Einsatz die Gesellschaft zumindest im Kleinen verändern (97 Prozent) und ein Zeichen gegen Rassismus setzen (90 Prozent). "Die Ergebnisse unserer Studien weisen darauf hin, dass die Ehrenamtlichen derzeit nicht überfordert sind", sagt auch Alexander Koop von der Bertelsmann Stiftung, die auch die aktuelle Studie der Humboldt-Universität in Auftrag gegeben hat. "Viele ehemals spontane Initiativen haben sich inzwischen gefestigt und beispielsweise Vereine gegründet, sich also eine tragfähige Struktur gegeben. Das zeigt, dass die Menschen sich auf die Situation eingestellt haben und Wege gefunden haben, damit umzugehen", so Koop.
Die Übergriffe in der Silvesternacht in Köln haben nach Angaben der Bertelsmann Stiftung keine negativen Auswirkungen auf das Engagement gehabt. "Aus den Gesprächen deutet sich vielmehr an, dass diejenigen, die bislang aktiv waren, sich auch weiterhin engagieren. Sie haben die Menschen, ihren Bedarf, aber auch das, was sie einem geben, kennengelernt und können die Dinge gut auseinanderhalten", sagt Koop.
"Wir sind optimistisch, dass dies auch nach den schrecklichen Vorfällen in Würzburg und Ansbach so bleibt. An alle ehrenamtlichen Helfer appellieren wir, sich angesichts dieser schrecklichen Taten einzelner Personen nicht entmutigen zu lassen und das wichtige Engagement für Flüchtlinge fortzusetzen", sagt Dieter Schütz vom Generalsekretariat des Deutschen Roten Kreuz. So herrscht bei vielen ehrenamtlichen Helfern tatsächlich eine "Wir schaffen das"-Stimmung.
Forderungen an die Politik
Aber dennoch haben die Hilfsorganisationen eine ganze Reihe von Verbesserungsvorschlägen für die Politik: "Asylverfahren müssen weiter beschleunigt werden, damit die Flüchtlinge wissen, woran sie sind, und sich auf die Situation einstellen können. Bei vielen Flüchtlingen in den Unterkünften herrscht Frust, weil die Asylverfahren so lange dauern und sie die Zeit mit Nichtstun verbringen müssen", sagt Schütz.
Die Malteser plädieren für einheitliche, verbindliche Qualitätsvorgaben bei der Unterbringung von Flüchtlingen. "Darüber hinaus müssen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge von Beginn an gut betreut werden", sagt Markus Bensmann von der Fachstelle Flüchtlingshilfe. Außerdem fehle es manchen Flüchtlings-Projekten an einer mittelfristigen Finanzierungsperspektive.
Beim Anblick ihres griechischen Abendessens mit ehrenamtlichen Helfern und Flüchtlingen in Wesseling rücken für Julia Lücke die Momente der Erschöpfung in den Hintergrund und weichen Euphorie. "Wer soll es denn schon schaffen, wenn nicht wir."