Politologe analysiert europapolitische Positionen Skepsis, guter Wille und Populismus
Berlin, Bochum, Weimar und Kreuth - in Klausuren und Konferenzen positionieren sich die Parteien fürs neue Jahr, vor allem für die Europawahl im Mai. Wer sich wie zwischen Zuwanderung und Bankenrettung aufstellt, erklärt Politologe Michael Kaeding im Interview mit tageschau.de.
tagesschau.de: Wenn Sie sich die aktuelle Diskussion in den deutschen Parteien über Europa anschauen - nimmt das Thema den angemessenen Raum ein?
Michael Kaeding: Je nach Partei fällt die Beschäftigung mit Europa durchaus unterschiedlich aus. In den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl finden sich mehrere Seiten zum Thema oder aber auch ein ganzes Kapitel. Aber: Alle Parteien sehen es als wichtigste Aufgabe Deutschlands an, sich am europäischen Einigungsprozess zu beteiligen. Das gilt auch für die CSU. Niemand stellt die EU tatsächlich in Frage, mit Ausnahme vielleicht der Linkspartei.
Seit 2012 ist Michael Kaeding Jean-Monnet-Professor für Europäische Integration und Europapolitik an der Universität Duisburg-Essen. Sein Lehrstuhl wird von der EU gefördert. Außerdem unterrichtet Kaeding am Europakolleg in Brügge. Studiert hat er Verwaltungswissenschaften in Konstanz. Seine Ausbildung verlief darüber hinaus international: Pavia, Moskau, Washington, Brüssel und Leiden waren einige der Stationen. Kaeding untersucht u.a., welchen Einfluss die EU auf nationale Verwaltungsstrukturen ausübt.
tagesschau.de: Nach wie vor bestimmt die Schuldenkrise das europäische Geschehen, bedarf der Finanzmarkt einer Regulierung. Welche Instrumente schlagen die Parteien vor?
Kaeding: Das Thema ist in allen Parteien präsent. Allerdings finden sich durchaus unterschiedliche Lösungsvorschläge. Beispiel Schuldenbremse: CDU und CSU wollen sie einführen. Auf der anderen Seite fordern Grüne und SPD eine europäische Wirtschaftsregierung, Eurobonds und Finanztransaktionssteuer – im Einklang mit der Position ihrer europäischen Parteienfamilien.
Neben der Schuldenbremse für Banken fordern die Grünen einen europäischen Schuldentilgungspakt und die Überführung des ESM in einen Europäischen Währungsfonds. Das sind die Instrumente, die in Deutschland und in anderen europäischen Ländern diskutiert werden. Das sind auch die Instrumente, mit Hilfe derer man der Schulden- und Finanzkrise Herr werden kann. In den Wahlprogrammen steht also mehr, als man vermuten würde.
tagesschau.de: Auf welches Interesse wird die Europawahl stoßen?
Kaeding: Misst man Interesse an Wahlbeteiligung, dann hat das Interesse über die Jahre ganz klar abgenommen. 1979 lag die deutsche Wahlbeteiligung bei rund 66 Prozent, 2009 bei um die 43 Prozent. 2014 wird die Wahlbeteiligung meiner Einschätzung nach nicht viel höher als 2009 ausfallen. Es bedeutet also eine erhebliche Anstrengung, die Menschen davon zu überzeugen, dass es um etwas geht.
Interessant ist sicherlich die Aufstellung eines Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionpräsidenten durch die europäischen Parteienfamilien. Mit der Aufstellung eines Kandidaten könnten auch junge Wähler mobilisiert werden. Die demokratische Legitimität der Europäischen Kommission würde sich erhöhen. Zudem würde es der Europawahl im Mai 2014 faktisch eine regierungsbildene Funktion geben. Man muss sehen, wie die Wahlbeteiligung ausfällt und wem das nutzt.
Die Regierungskoalition
tagesschau.de: Die CDU wirkt seltsam getrieben, nicht zuletzt in der Debatte über Armutszuwanderung von der Schwesterpartei CSU. Verspielt die Christdemokratie das Erbe ihrer großen Europäer Adenauer und Kohl?
Kaeding: Die CDU hält sich zurzeit recht bedeckt, leider auch gegenüber dem Wähler. Am besten und am ehrlichsten wäre es sicherlich, den Bürgern besser zu erklären, welche Entscheidungen in der EU wie gefällt werden. Und nicht, das zu tun, was die Politiker bisher in praktisch allen Mitgliedstaaten tun: Sie verbuchen die europäischen Erfolge für sich und zeigen bei unbeliebten Beschlüssen mit dem Finger auf Brüssel und schimpfen auf die Eurokraten. Dabei machen auch die nur Vorschläge. Die Entscheidungen treffen aber letztlich die nationalen Minister und Regierungschefs und das Europäischen Parlament.
Auch ist nicht immer ganz klar, inwiefern Bundeskanzlerin Merkel und Bundesfinanzminister Schäuble europäisch denken und handeln oder ob sie nur rein deutsche Interesse vertreten. Darauf achtet vor allem auch das europäische Ausland.
Bis Mitte Februar will die CDU einen Entwurf für ein Europawahlprogramm vorlegen, das dann im April verabschiedet werden soll. Designierter Spitzenkandidat ist der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident David McAllister. Die Wahl soll der Politik der Euro-Stabilität Rückenwind geben. Mit Sorge betrachten die Christdemokraten die Ankündigung der kleineren rechtspopulistischen Parteien, verstärkt zusammenzuarbeiten. In der deutschen Zuwanderungsdebatte verhält sich die CDU uneindeutig.
tagesschau.de: Wie sehr braucht die CSU die Zuwanderungsdebatte, um punkten zu können? Und inwieweit reagiert man damit auf Europa-skeptische Äußerungen, zum Beispiel bei der Alternative für Deutschland?
Kaeding: Die Diskussion über Migration dient der CSU, aber auch anderen europäischen Parteien wie in den Niederlanden oder dem Vereinigten Königreich als Vehikel, um die eigene Wählerschaft zu mobilisieren. In fast allen EU-Mitgliedsstaaten wird emotional über die Vor-und Nachteile von Migranten innerhalb der EU diskutiert. Die CSU ist allerdings kein EU-Verweigerer, hat keine ablehnende Haltung gegenüber der EU.
Es geht der CSU in Deutschland darum, den Europa-Skeptikern von der Alternative für Deutschland nicht das Feld zu überlassen. Das zeigt sich zum Beispiel an der Wahl eines Peter Gauweiler zum stellvertretenden Parteivorsitzenden. Er soll nun mit Populismus und Stammtisch-Niveau die jüngsten Wahlerfolge der CSU auch bei der Europawahl sichern. Eine solche Euro-Skepsis findet sich aber nicht nur am rechten, sondern auch am linken Rand. Die Linkspartei hat bei der Bundestagswahl ebenfalls viele Stimmen an die AfD abgeben müssen.
Angebracht wäre es auf jeden Fall, ein Thema wie Migration differenziert zu betrachten. Einwanderer haben der deutschen Wirtschaft mehr gegeben als sie gekostet haben – das gelte es zu erklären.
Die CSU tritt bei der Europawahl mit einem eigenen Spitzenkandidaten an: Markus Ferber ist seit 1994 Mitglied des Europäischen Parlaments. Auch inhaltlich grenzt sich die CSU von der Schwesterpartei ab und warnt vor einer verstärkten Armutszuwanderung nach Deutschland. Das brachte Seehofer & Co vor und während der Klausurtagung in Kreuth viel Kritik, aber vor allem viel Aufmerksamkeit ein. In Kreuth beschloss die CSU ein Europa-Papier und fordert, Kompetenzen an die EU-Mitgliedsstaaten zurück zu übertragen: "Wir brauchen eine Entzugstherapie für Kommissare im Regulierungsrausch."
tagesschau.de: Woran liegt es, dass die Skepsis gegenüber Europa immer weiter um sich greift?
Kaeding: In praktisch allen EU-Mitgliedsstaaten hat sich - nicht zuletzt aufgrund der Krise - in der Bevölkerung eine Euro-skeptische Stimmung verbreitet. Und diese Stimmung birgt natürlich ein extremes Wählerpotenzial, das bei den bevorstehenden Europawahlen noch deutlicher zum Vorschein kommen wird als bei rein nationalen Wahlen. In einigen Mitgliedstaaten wird dieses Wählerpotenzial von alten oder neuen Protest-Parteien ausgeschöpft, die das traditionelle Gleichgewicht der Parteien ins Wanken bringen.
Der Spitzenmann der SPD in Brüssel soll auch Spitzenkandidat werden: Martin Schulz, bislang EU-Parlamentspräsident, soll auf diesem Weg auch für das Amt des Kommissionspräsidenten in Stellung gebracht werden. Währenddessen greift vor allem die SPD das zweifache Imageproblem auf. So will Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Wahrnehmung Deutschlands in Europa und die Wahrnehmung Europas in Deutschland verbessern. Besonders aus dem Süden Europas war der deutschen Regierung vorgeworfen worden, zu sehr auf Sparpolitik zu pochen und zu wenig Wert auf Wachstumsimpulse zu legen. Viele Deutsche empfinden die EU und die Anstrengungen zur Euro-Rettung vor allem als Belastung.
Die Opposition
tagesschau.de: Von den Parteien im Bundestag gibt sich die Linkspartei am Europa-kritischsten. Wie fundamental fällt diese Kritik tatsächlich aus?
Kaeding: Die Linkspartei spricht nicht mit einer Stimme, wenn es darum geht, sich gegenüber der EU zu positionieren. Da steht der Realismus eines Gregor Gysi dem Linkspopulismus einer Sahra Wagenknecht gegenüber. Das sieht man jetzt im Streit über das Europawahlprogramm. Und: Die Linkspartei steht mit einigen ihrer Forderungen nicht alleine dar. Die Stärkung der Parlamentarisierung Europas ist zum Beispiel klarer Konsens. Alle wollen Bürokratieabbau. Alle wollen die Anzahl der Kommissare reduzieren. Alle wollen mehr Demokratie, mehr Effizienz. Im Grunde nach ist die Linkspartei eine Partei, deren vorgeschlagene Lösungen international ausgerichtet ist.
Die Linkspartei streitet in der Vorbereitung des Europa-Parteitags ab dem 15. Februar in Hamburg über die Ausrichtung des Wahlprogramms. In der Präambel des Entwurfs wird die Europäische Union als "neoliberale, militaristische und weithin undemokratische Macht" bezeichnet. Außerdem fordert die Linkspartei, Deutschland solle aus den militärischen Strukturen der NATO austreten. Fraktionschef Gysi kritisierte die Forderung als "zu national gedacht". Parteichef Bernd Riexinger signalisierte Kompromissbereitschaft. Er sei für jede Verbesserung offen. Allerdings liegt ein weiterer Entwurf vor, der noch Europa-kritischer ist.
tagesschau.de: Die Grünen wollen zurück zum Kerngeschäft und mit Umwelt und Klimaschutz verlorenes Terrain zurück gewinnen. Trägt das als europapolitisches Konzept?
Kaeding: Ja. Umwelt und Klimaschutz gehören zu den Themen, die vor allem auch auf der europäischen Ebene anzugehen sind. Das haben die Grünen begriffen. Das ist aber auch parteiunabhängiger Konsens. Ähnliches gilt für die Energiepolitik, Pandemien, internationaler Terrorismus und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen.
Die Erfahrungen aus dem Bundestagswahlkampf wiegen schwer. Die Grünen wollen vor der Europawahl um jeden Preis den Eindruck der Gängelei der Bürger vermeiden und setzen auf ihre klassischen Themen wie Umwelt und Klimaschutz. Angesichts des wachsenden Anteils der klimaschädlichen Braunkohle an der Stromproduktion wollen die Grünen eine Kampagne gegen die Kohle starten. Zur Energiewende gehöre, "die alten Klimakiller Kohlekraftwerke abzuschalten". Gegen steigende Strompreise sei das Streichen von Industrie-Rabatten beim Ökostrom das erste Mittel. Profilieren wollen sich die Grünen als "Stimme für Europa". Ausgaben müssten gekürzt, Subventionen abgebaut, Steuern gerechter werden.
Die Außerparlamentarischen
tagesschau.de: Die FDP setzt auf einen pro-europäischen Kurs. Wird dieses Unterfangen von Erfolg gekrönt sein?
Kaeding: Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass die FDP keine Mühe haben wird, die Drei-Prozent-Hürde für das Europaparlament zu überwinden. In der Vergangenheit hat die FDP immer eine pro-europäische Kraft dargestellt. Auf der anderen Seite wurden die Europa-Kritiker der Partei wie Frank Schäffler nie für ihre Haltung abgestraft. Im Gegenteil: Sie wurden sogar mit besseren Listenplätzen für die Bundestagswahl belohnt. Man ahnte ja schon, dass es knapp werden würde. Es wird sich zeigen, ob sich der neue Parteivorsitzende Christian Lindner mit seinem Europa-konstruktiven Kurs durchsetzen wird.
Auf ihrem ersten Dreikönigstreffen als Teil der außerparlamentarischen Opposition vertrat die FDP einen klaren pro-europäischen Kurs. Man wolle sich zu Europa bekennen und dessen Probleme angehen, so FDP-Chef Lindner. Er kritisierte eine "fatale Mischung aus Technokratie und Pathos" in Brüssel. Das führe dazu, dass die Menschen den Eindruck hätten, wichtige Themen würden dort nicht wahrgenommen. In der Debatte um die europäischen Rettungspakete hatten vor allem der damalige FDP-Bundestagsabgeordnete Schäffler und seine Euro-kritische Haltung von sich reden gemacht.
tagesschau.de: Im Zusammenhang mit der AfD wird immer wieder über Rechtsextremismus-Vorwürfe berichtet. Wie nah ist die Partei dem rechten Rand?
Kaeding: Einige Studien weisen darauf hin, dass im Vorfeld der Bundestagswahl die Nähe zum rechten Rand gesucht wurde. Wahlwerbung ist zum Beispiel in entsprechenden Publikationen platziert worden. Eine neu gegründete Partei hat aber häufig mit dem Problem der Unterwanderung zu kämpfen. Das kennen die Grünen auch aus ihrer eigenen Geschichte. Trotzdem: Aufmerksame Beobachtung tut Not.
Nachdem die AfD den Einzug in den Bundestag mit 4,7 Prozent nur knapp verpasst hat, scheint die Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl kein großes Hindernis zu sein. Möglicherweise soll der frühere Industrie-Präsident Hans-Olaf Henkel Spitzenkandidat der AfD werden. Seit dem 8. Januar ist er Mitglied. Allerdings hat die Partei der Euro-Skeptiker in den vergangenen Monaten vor allem durch innerparteilichen Streit von sich reden gemacht. Viele sehen in der AfD um den Hamburger Wirtschaftsprofessor Bernd Lucke schon die neue FDP. Für Politologen ist von hohem Interesse, welche der beiden Parteien bei der Europawahl besser abschneidet.
tagesschau.de: Für die Piraten könnte die Europawahl eine letzte Chance sein, nachdem sie bei der Bundestagswahl nicht reüssieren konnten. Reicht deren Themensetzung aus, um Wähler zu motivieren?
Kaeding: Es ist richtig, dass die Piraten viele Themen aufgreifen, die auch andere Parteien in ihren Programmen aufführen, wie die massive Stärkung der Europäischen Bürgerinitiative. Das sieht bei der Forderung nach EU-weitem Breitbandausbau und einer Reform des Datenschutzrecht anders aus. Die ist mehr piratenspezifisch. Allerdings lässt sich beobachten, dass trotz erheblicher Lücken die Menschen für besseren Datenschutz nicht auf die Straße gehen. Es könnte also sein, dass es für die Piraten am Ende nicht reicht, obwohl sie es geschafft haben, eine europäische Parteienfamilie zu gründen. Ihr Ziel ist also ganz klar, eine Fraktion im nächsten Europaparlament zu bilden.
Die Piratenpartei will mit ihren Kernthemen punkten: gegen Überwachung, für mehr Mitbestimmung. In ihrem Wahlprogramm fordern die Piraten ein "Demokratie-Update für Europa", zum Beispiel durch Volksabstimmungen auf EU-Ebene. Sie sprechen sich unter anderem für eine Reform des Urheberrechts und den Schutz vor staatlicher Überwachung aus. Auch nahmen sie Kritik am geplanten transatlantischen Freihandelsabkommen in ihr Programm auf. Die Piraten sehen durch das Abkommen zwischen der EU und den USA die Meinungsfreiheit und den Verbraucherschutz gefährdet.
Das Gespräch führte Ute Welty, tagesschau.de