Erdogan bei Scholz Klarer Dissens auf offener Bühne
Der türkische Präsident ist in Berlin vom Kanzler empfangen worden. Gleich zu Beginn prallten ihre Positionen zu Nahost aufeinander: Erdogan forderte eine Waffenruhe in Gaza, Scholz betonte das Existenzrecht Israels.
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat bei seinem Besuch in Berlin die Kritik an Israels Vorgehen im Gazastreifen untermauert. "Wir sprechen von 13.000 Kindern, Frauen, alten Menschen, die getötet worden sind", sagte er im Beisein von Bundeskanzler Olaf Scholz im Kanzleramt. "Alles ist dem Erdboden gleichgemacht worden."
Zugleich unterstrich er die Forderung nach einem humanitären Waffenstillstand. Wenn Deutschland und die Türkei gemeinsam einen solchen Waffenstillstand erreichen könnten, habe man die Chance, die Region aus diesem "Feuerring" zu retten, ergänzte er. Jeder müsse sich für einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten einsetzen.
"Existenzrecht Israels für uns unumstößlich"
Scholz betonte auf der gemeinsamen Pressekonferenz das Selbstverteidigungsrecht Israels. "Das Existenzrecht Israels ist für uns unumstößlich". Israel habe "das völkerrechtlich verbriefte Recht, sich zu verteidigen".
An Erdogan gerichtet sagte Scholz, es sei "kein Geheimnis", dass "wir zu dem aktuellen Konflikt unterschiedliche, zum Teil sehr unterschiedliche Sichtweisen haben". Erdogan und er teilten aber die "Sorge vor einem Flächenbrand im Nahen Osten". "Jedes Leben ist gleich viel Wert", so Scholz weiter. Auch das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung bedrücke die Bundesregierung.
Nach einem etwa zweistündigen Abendessen im Kanzleramt hieß es aus deutschen Regierungskreisen, das Gespräch habe sich auf die humanitäre Lage in Gaza, die Freilassung von Geiseln der und die Sorge vor einer regionalen Eskalation konzentriert. Man habe auch über mögliche Perspektiven für den Gazastreifen und den Nahost-Konflikt gesprochen, hieß es: "Der Bundeskanzler unterstrich die deutsche Haltung der Solidarität mit Israel und verurteilte in aller Klarheit den terroristischen Anschlag der Hamas."
Scholz drängt zur Rücknahme von abgelehnten Asylbewerbern
Scholz drang in seinem Gespräch mit Erdogan außerdem darauf, die Rückführung von Asylbewerbern aus der Türkei ohne Bleiberecht in Deutschland voranzutreiben. Der Kanzler habe betont, dass es dafür "einen belastbaren Mechanismus" geben müsse, hieß es aus Regierungskreisen. "Beide begrüßten daher die intensive Arbeit im Rahmen der neu eingerichteten bilateralen Arbeitsgruppe der Innenbehörden und beauftragten sie, zu einem baldigen einvernehmlichen Ergebnis zu kommen."
Die beiden hätten sich auch auf eine zügige Ausweitung der Imam-Ausbildung in Deutschland verständigt, um die Entsendungen von Imamen aus der Türkei schrittweise zu beenden, hieß es weiter. Scholz sagte Erdogan Unterstützung beim Wiederaufbau von Bildungseinrichtungen nach dem verheerenden Erdbeben vom Februar dieses Jahres zu, bei dem Zehntausende Menschen ums Leben kamen.
Einig seien sich Scholz und Erdogan gewesen, "dass Russland weiter dringend aufgefordert" sei, den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu beenden. Der Kanzler habe zudem für die noch ausstehende Ratifizierung des schwedischen NATO-Beitritts durch die Türkei geworben.
Umstrittener Deutschland-Besuch
Erdogans Deutschland-Besuch ist wegen seiner scharfen Verbalattacken gegen Israel seit Beginn des Gaza-Kriegs umstritten. Erdogan hatte die Ermordung vieler Hundert israelischer Zivilisten beim Terrorangriff am 7. Oktober zwar verurteilt, die dafür verantwortliche Terrororganisation Hamas aber später als "Befreiungsorganisation" bezeichnet.
Israel warf er dagegen einen "Genozid" im Gazastreifen vor und stellte sogar Israels Existenzrecht infrage. Israel versuche, "einen Staat aufzubauen, dessen Geschichte nur 75 Jahre zurückreicht und dessen Legitimität durch den eigenen Faschismus infrage gestellt wird", sagte er Ende vergangener Woche. Scholz hat die Vorwürfe Erdogans gegen Israel als "absurd" zurückgewiesen.
Gleichzeitig erklärte Erdogan aber auch immer wieder seine Unterstützung für eine Zwei-Staaten-Lösung - eine Haltung, die er mit dem Bundeskanzler teilt.
Beide Seiten brauchen sich
Es wurde aber trotz der Meinungsunterschiede mit Blick auf Israel auch deutlich, dass beide Seiten ein hohes Interesse an einer Zusammenarbeit haben. Nach Einschätzung von ARD-Korrespondentin Tina Hassel strebt der Kanzler eine Neuauflage des EU-Türkei-Abkommens an, dafür seien neue Milliardenhilfen zur Versorgung von Flüchtlingen in der Türkei im Gespräch. Die wiederum benötige das wirtschaftlich angeschlagene Land.
Außerdem hoffe Erdogan auf Visa-Erleichterungen für Türken, die etwa ihre Familienangehörige in Deutschland besuchen wollen, so die Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios.
Erdogan war vor dem Treffen mit Scholz von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier empfangen worden. Steinmeier machte nach Angaben des Bundespräsidialamts gegenüber dem türkischen Staatschef die "deutsche Position mit Nachdruck deutlich". Sprecherin Cerstin Gammelin erklärte dazu im Online-Dienst X, Steinmeier habe "die Einstufung des Überfalls der Hamas auf Israel als Terrorangriff und der Hamas als Terrororganisation unterstrichen". Zudem habe er "das Existenzrecht Israels sowie sein Recht auf Selbstverteidigung herausgehoben".