Abstimmung im Bundestag Merkel wirbt für ESM und Fiskalpakt
Erst in den Fraktionen, jetzt im Bundestag: Kanzlerin Merkel hat vor den Abgeordneten die Ergebnisse des EU-Gipfels verteidigt und für ein Ja zum Fiskalpakt und zum Rettungsschirm ESM geworben. Zur Stunde debattieren die Parlamentarier über die Gesetze. Am Abend soll abgestimmt werden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den Bundestagsabgeordneten vom EU-Gipfel in Brüssel berichtet und in einer Regierungserklärung eindringlich für die Zustimmung zu den Gesetzen zum europäischen Fiskalpakt und zum dauerhaften Rettungsschirm ESM geworben. Im Anschluss daran folgt eine Aussprache, am späten Abend soll abgestimmt werden.
Ein Antrag auf Verschiebung der Abstimmung, den die Linkspartei eingebracht hatte, fand im Bundestag keine Mehrheit.
Merkel warb vor dem gut gefüllten Bundestag für ein breites Ja zu Fiskalpakt und ESM. "Diese beiden Verträge bilden eine inhaltliche Einheit, sie gehören zusammen." Denn sie verknüpften Solidarität und Solidität. Finanzhilfen gebe es nur, wenn sich das Land auch zum Fiskalpakt bekenne. Der Fiskalpakt sei notwendig, weil die Euroländer nicht nur in einer gemeinsamen Währung zahlten, sondern sich auch in bestimmten Politikbereichen aufeinander verlassen können müssten. "Mit diesen Verträgen machen wir unumkehrbare Schritte hin zu einer nachhaltigen Stabilitätsunion", betonte Kanzlerin Merkel.
Mehr Wettbewerb, mehr Wachstum
Anschließend ging Merkel auf die Ergebnisse des Gipfels in Brüssel ein. Solide Finanzen seien nur eine Seite der Medaille. Dazu gehöre auch mehr Wettbewerbsfähigkeit. Mehr Wettbewerb bedeute mehr Wachstum, und mehr Wachstum mehr Beschäftigung. Daher sei es konsequent gewesen, auf dem EU-Gipfel in Brüssel ein Wachstums- und Beschäftigungspakt zu verabschieden.
Die Gipfelbeschlüsse - vor allem die kritisierte direkte Hilfe für marode Banken - beträfen "in keinster Weise" die heute zu verabschiedeten Gesetze zu Fiskalpakt und ESM. Alle weiterführenden Beschlüsse bedürften einer erneuten Zustimmung der Parlamente, versicherte Merkel. "Jeder Schritt bedarf einer weiteren Befassung des Deutschen Bundestags."
In diesem Punkt hatte es zuvor Verwirrung gegeben. Forderungen nach Verschiebung der Abstimmung waren laut geworden.
Bundestag und Bundesrat stimmten über den ESM-Vertrag in der Version ab, die im Februar 2012 unterzeichnet und bereits von mehreren Staaten ratifiziert wurde. Die Änderungen, auf die sich die Euro-Staaten auf dem Gipfel am 28./29. Juni verständigten, sind darin noch nicht enthalten. Das betrifft besonders die geplante direkten Kapitalhilfen für Banken. Im ESM-Vertrag wird in Artikel 15 ausdrücklich festgelegt, dass Finanzhilfen für Banken zwar möglich sind, aber nicht direkt an die Institute fließen dürfen. Vielmehr muss ein Staat die Hilfen beim ESM beantragen und kann sie dann an die Institute weiterreichen. Die Regierung haftet in diesem Fall für die Kredite und muss Auflagen erfüllen.
Änderungen dieser und anderer Hilfsinstrumente sind laut Artikel 19 des ESM-Vertrags aber möglich. Voraussetzung dafür ist die Zustimmung aller Mitglieder des ESM-Gouverneursrates, in dem die Regierungen aller Unterzeichnerstaaten vertreten sind. Bevor die Bundesregierung im Namen Deutschlands solchen Änderungen zustimmen kann, muss sie aber vorher den Gesetzgeber fragen. Das legt Artikel 2, Absatz 2 des Gesetzes zum ESM-Vertrag fest.
Ohne ausdrückliche Zustimmung des Bundestages in Form eines Gesetzes können somit keine direkten Bankenhilfen durch den ESM eingeführt werden. Ein Ja von Bundesrat und Bundestag zum ESM-Vertrag in seiner ursprünglichen Form bedeutet somit noch keine Zustimmung zu direkten Bankenhilfen.
SPD-Chef Gabriel kritisiert und lobt
In der anschließenden Debatte kritisierte SPD-Chef Sigmar Gabriel die Kanzlerin und CDU-Chefin scharf. Merkel habe der möglichen Rekapitalisierung von Banken über den ESM beim EU-Gipfel zugestimmt. Das sei das exakte Gegenteil von der ursprünglichen Gesetzesversion zum ESM, die der Bundestag heute beschließen soll. "Der Steuerzahler könne so für Spekulationsrisiken der Banken in Anspruch genommen werden."
Doch der Oppositionschef fand auch lobende Worte für die Kanzlerin. "Wir finden die Wachstumsbeschlüsse des EU-Gipfels richtig, wir freuen uns darüber, dass neben Wachstumsprogrammen die Finanztransaktionssteuer endlich auf den Weg gebracht worden ist." Ohne Druck von SPD und Grünen sei das nicht möglich gewesen, sagte Gabriel in der Debatte. Merkels bisheriges Spardiktat sei krachend gescheitert.
SPD-Chef Sigmar Gabriel forderte die Koalition zudem auf, den plakativen Widerstand gegen eine gemeinsame Schuldenhaftung in Europa aufzugeben. Der deutsche Steuerzahler hafte doch längst schon für Milliardenbeträge: So habe die Europäische Zentralbank bereits mehr als eine Billion Euro an direkter und indirekter Staatsfinanzierung geleistet, sagte Gabriel. Für diese "heimlichen Schulden" hafte auch Deutschland - nur eben nicht mit offenen Eurobonds, sondern mit "Merkel-Bonds".
Dem Rettungsschirm ESM und dem Fiskalpakt wollte die SPD-Fraktion am späteren Abend dennoch mit großer Mehrheit zustimmen. Gabriel sprach von "Notoperationen". Die Haftung Deutschlands in Milliardenhöhe sei im deutschen Interesse. Deutschland gebe damit nur einen Teil dessen zurück, "was wir selbst an der europäischen Einigung verdient haben." Unionsfraktionschef Volker Kauder betonte: "Wir wollen, dass es kein Geld ohne Gegenleistung gibt." Das müsse jeder in Europa wissen.
Brüderle: "Deutschland wird europäischer"
FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle begrüßte die angekündigte Zustimmung von SPD und Grünen zu den Gesetzesvorlagen. Von Deutschland gehe damit "ein Signal der Handlungsfähigkeit" aus. Zwar werde kein Grundgesetzartikel verändert, doch geändert werde die innere Verfasstheit der Republik: "Deutschland wird europäischer."
"Wir stehen vor der Herausforderung, dieses Europa neu zu begründen", sagte Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin in der Debatte. Er warf Merkel vor, zu zögerlich auf die Krise reagiert zu haben.
"Katastrophenkonzept"
Die Linkspartei rechnete mit dem Euro-Rettungskurs der Regierung grundsätzlich ab. "Dieses Europa ist ein Projekt der Zerstörung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit"sagte Fraktionsvize Sahra Wagenknecht. Mit dem Fiskalpakt solle das "Katastrophenkonzept" für Griechenland und Spanien mit unsäglichen Kürzungsdiktaten auf ganz Europa übertragen werden. Mit dem Rettungsschirm ESM folge jetzt "das nächste Milliardengrab". Auch für die SPD hatte Wagenknecht nur Kritik übrig: Sie habe "nahezu jeder europapolitischen Schandtat der Regierung zugestimmt".
Bis 21.00 Uhr soll das Parlament über beide Gesetze beraten. In der namentlichen Abstimmung soll je eine Zweidrittelmehrheit zustande kommen. Die Oppositionsparteien SPD und Grüne hatten vorab ihre Zustimmung signalisiert, sodass lediglich die Linkspartei geschlossen mit Nein stimmen dürfte. Anschließend soll der Bundesrat abstimmen. Auch hier gilt eine Zwei-Drittel-Mehrheit als sicher.
Bundesverfassungsgericht erwartet Klagewelle
Selbst nach erfolgreicher Abstimmung in Bundestag und Bundesrat wird sich die Umsetzung von Fiskalpakt und ESM verzögern.
Das Bundesverfassungsgericht rechnet damit, dass noch am Abend mehr als 12.000 Verfassungsbeschwerden, zwei Organklagen und eine Reihe von Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei ihm eingehen werden. Auf Bitte der Karlsruher Richter wartet Bundespräsident Joachim Gauck noch mit der Unterzeichnung der Gesetze, um dem höchsten deutschen Gericht ausreichend Zeit zur Prüfung aller Klagen und Anträge zu geben.